Die Aufklärung ließ auf sich warten

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Die ARD arbeitet einen der langwierigsten deutschen Kriminalfälle auf: die Göhrde-Morde als Dokumentarfilm, sechsteilige Serie und Podcast.

Bei solchen Drehbuchvolten wäre mindestens ein Stirnrunzeln angebracht. Die Polizei untersucht den Fundort zweier Leichen. Währenddessen wird nicht mal einen Kilometer entfernt ein weiteres Paar mit vernehmlichen Schüssen umgebracht. Und würde man glauben wollen, dass ausgerechnet die Schwester des stellvertretenden Polizeipräsidenten Hamburgs Opfer eines Gewaltverbrechens wird?

Auf eigene Faust

Aber der Drehbuchautor Stefan Kolditz hat die Tatsachen auf seiner Seite. Diese Verbrechen und weitere haben sich Ende der 1980er-Jahre in Niedersachsen im Raum Lüneburg ereignet und wurden lange Zeit nicht aufgeklärt. Die zuständige Mordkommission ging vielerlei Spuren nach, die Ermittlungen führten unter anderen in die Niederlande und nach Wales, eine Belohnung wurde ausgesetzt, die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ eingeschaltet. Ohne Ergebnis. Jahre verstrichen. Aus Mordopfern wurden Karteileichen.

Wolfgang Sielaff, zur Zeit der ersten Leichenfunde Leiter des Landeskriminalamts in Hamburg, später stellvertretender Polizeipräsident in Hamburg, mochte sich damit nicht abfinden. In Niedersachsen besaß er keine Zuständigkeit, dienstlich blieb er ohne Einfluss. Nach dem Eintritt in den Ruhestand ermittelte er auf eigene Faust, unterstützt unter anderem von einer Polizeipsychologin, einem Strafverteidiger, der Akteneinsicht hatte, einem Staatsanwalt, einem LKA-Kollegen. Und wo, man darf es so ausdrücken, die zuständigen Ermittler unverständliche Fehler begingen, wurde die inoffizielle „SoKo“ am Ende fündig.

Der Dokumentarfilm

Schon im September vergangenen Jahres sendete der NDR einen neunzigminütigen Dokumentarfilm über diese spektakulären Kriminalfälle. Der Journalist und Dokumentarfilmer Björn Platz durfte Wolfgang Sielaffs mühsame Ermittlungsarbeit über drei Jahre hinweg mit der Kamera begleiten, konnte deren Ende anfangs nicht absehen, erlebte aber den erfolgreichen Abschluss. Platz verzichtete in seiner Darstellung völlig auf die reißerische Manier inhaltlich verwandter US-amerikanischer Produktionen, die schon seit einiger Zeit in Mode sind und in Spartenkanälen wie RTL II, Vox, TLC ganze Programmstrecken füllen. Am 9. Dezember um 21:45 Uhr zeigt das Erste eine Kurzversion dieses Films, die informativere dreiteilige Langfassung ist bereits in der ARD-Mediathek abrufbar.

Abweisende Männerwelt

Diese Angebote, erweitert noch um einen Podcast, flankieren die Ausstrahlung eines Spielfilm-Sechsteilers, in dem die geschilderten Ereignisse fiktionalisiert wurden – „frei nach wahren Begebenheiten“, wie es im Nachspann heißt. Ähnlich wie einst im erstmals 1958 ausgestrahlten Fernsehklassiker „Stahlnetz“. „True Crime“-Verfilmungen sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.

Personen und Orte tragen andere Namen, Figuren wurden hinzugefügt, andere gestrichen, einige Ereignisse zugespitzt. Der Kern aber blieb erhalten. Wolfgang Sielaff und sein Nachfolger im LKA, Reinhard Chedor, standen der Produktion beratend zur Seite.

Eine der von Stefan Kolditz erdachten Charaktere ist die Kriminalpolizistin Anne Bach (Karoline Schuch). Als junge Berufsanfängerin, die sich in einer abweisenden Männerwelt behaupten muss, ist sie mit dem Doppelmord im Iseforst befasst und noch immer dabei, als dem pensionierten LKA-Chef, der hier Thomas Bethge (Matthias Brandt) heißt, und seinen Mitstreitern fast dreißig Jahre später der entscheidende Fund gelingt.

Familiäre Dramen

Es war eine kluge Entscheidung des produzierenden NDR und der Degeto, diese Geschichte als Mehrteiler zu erzählen. Bei einer üblichen Fernsehfilmlaufzeit von neunzig Minuten wäre es nicht möglich gewesen, die feinen Verästelungen dieser komplexen, eigentümlichen Ereignisfolge angemessen zu berücksichtigen. Gemeint ist nicht nur die akribische Ermittlungsarbeit, in der es auf kleinste Details und hauchfeine Spuren ankommen kann. Zentrales Thema des Mehrteilers ist, dass und wie diese Verbrechen das Leben der Beteiligten über Jahrzehnte hinweg überschatten. Nicht zuletzt, weil die Polizei leichtfertig mit Informationen an die Öffentlichkeit geht, geraten Bürger unter Verdacht. Familien zerbrechen, Existenzen werden vernichtet.

Bleibende Unruhe

Alle Hauptfiguren machen unter der Regie von Sven Bohse behutsam ausgearbeitete Entwicklungen durch. Der prinzipientreue Thomas Bethge ist anfangs der festen Überzeugung, dass der polizeiliche Apparat funktionieren wird. Er erlebt Enttäuschung um Enttäuschung, leidet unter Albträumen, verfällt der Schwermut. Seine Frau (Jenny Schily), all die Jahre treu und verständnisvoll an seiner Seite, fordert ihn auf, einen neuen Anlauf zu wagen. Sie weiß, er wird ansonsten niemals in ein normales Leben finden.

Der Alterungsprozess der Figuren wird nicht nur von den Maskenbildnern Jeanette Latzelsberger und Gregor Eckstein überzeugend gemeistert. Er zeigt sich auch im Ausdruck der wiederkehrend auftretenden Schauspieler, die Mienenspiel und Körpersprache ihrer Charaktere stets dem jeweiligen Wissens- und Erfahrungsstand anpassen. Nuanciert und mit einem psychologischen Feingefühl, wie man es nicht alle Tage sieht.

Unsitten

Schade nur, dass Drehbuchautor Kolditz den Schauspielerin einige Male anachronistische Zeilen zumisst. Die Minimal-Redewendung „Alles gut?“ war 1989 noch nicht gebräuchlich, ebenso wenig der Anglizismus „wir müssen sprechen“ – we must talk –, der über schlampige Synchronisationen in die Umgangssprache gelangte. Fernsehtypisch auch, dass jemand bei der Annahme eines Telefonats als erstes den Namen des Gesprächspartners in die Muschel spricht, statt sich, wie üblich, mit dem eigenen zu melden. Eine ungeschickte Behelfsmaßnahme, um den Anrufer für die Zuschauerschaft zu identifizieren.

„Das Geheimnis des Totenwaldes“, 2., 5., 9. Dezember, jeweils 20:15 Uhr im Ersten und in der Mediathek.

„Eiskalte Spur“, dreiteilige Dokumentation in der ARD-Mediathek