Wie das ZDF den Fluchtinstinkt auslöst

Wenn das ZDF ein „hochkarätiges Musikprogramm“ ankündigt, dann muss man sich auf folgendes einstellen:

„Hermes House Band, Paul Potts, Bonnie Tyler, Adoro, The Drapers feat. Yolanda B Cool und das Musical-Ensemble ‘We will rock you’ (…), sowie Big Soul, Leslie Mandoki & the Soulmates, LOONA, Velile und Die Prinzen.“

So treibt man die Jugend auf die Straße … Nein, Korrektur: nicht allein die Jugend …


 

Sympathische Vertragsklausel

Ein wahres Wort in der „Frankfurter Rundschau“:

„Zwischen uns und dem Leser gibt es einen Vertrag. In dem steht, dass ich ihm sage, was ich sehe und höre, was man mir gesagt hat und nicht, was ich mir ausgedacht habe.“ (Timothy Garton Ash im Gespräch mit Arno Widmann, Ausgabe vom 30.12.2010.)

Ist es nicht seltsam, dass man diesen eigentlich natürlichen Sachverhalt nicht nur eigens betonen, sondern ihm sogar eine appellative Schwingung mitgeben muss? Hoffentlich hat man die Basislektion an entscheidender Stelle gelesen.

Die Vorher-/Nachher-Show

Westerwelle, gar nicht scheu

Belehrte im Vorjahr noch die Wähler

Der Staat besitze Geld wie Heu

Das war ja wohl ein Fehler

 

Ich hab’s noch ganz genau im Ohr

Guido sprach recht verbissen

In Talkshows tat er sich hervor

Heut’ will er’s nicht mehr wissen

 

Einmal gewählt, ward Westerwelle

Im Kabinett der Außenmann

Sehr schlau, weil er im Fall der Fälle

Per Dienstflugzeug entschlüpfen kann

Schlecht genährte Gesellschaftsanalyse

Es zeigt sich abermals, dass die Beurteilung programmlicher Angebote des Fernsehens insofern doch besser Fachkräften überlassen bleiben sollte, als besagte Phänomene, wie dieser Artikel aus der „Frankfurter Rundschau“ exemplarisch belegt, des öfteren und neuerdings, so jedenfalls die persönliche Empfindung, immer häufiger zur Analyse gesellschaftspolitischer Vorgänge herangezogen werden. Und da kann es dann schon mal zu akuten Fehlsch(l)üssen kommen.

Die Autorin Elke Brüns etwa zieht rührig – und allerlei Unzusammengehöriges verrührend – gewisse Erscheinungen des Fernsehens zur Beweisführung heran, deren Wesen sie mutmaßlich nur über die einschlägige Berichterstattung vermittelt bekommen hat. Zum einen glaubt sie zu wissen, dass „Harald Schmidt den Begriff ‚Unterschichten-Fernsehen‘ und damit die Idee einer mediale [sic!] Klassengesellschaft populär gemacht“ hat. Ähnliches wurde einem ja schon häufiger aufgetischt und dabei zumeist vergessen, dass Harald Schmidt den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ ironisch gebrauchte – an Manuel Andrack gerichtet fiel der Satz: „… als wir noch Unterschichtenfernsehen gemacht haben“. Der Gag, den man wie’s scheint erklären muss: Die zeitweilig von Feuilletonisten in aufdringlichster Manier vereinnahmte „Harald Schmidt Show“ war demnach „Unterschichtenfernsehen“. Womit natürlich die Snobs unter den Freunden dieser Show einen kräftigen Nasenstüber bekamen. Nur haben es viele gar nicht gemerkt.

Auch der zweite Ausflug von Elke Brün ins fernsehkritische Ressort zielt daneben. Aus der zwar nicht einsilbigen, aber doch sehr knappen Meldung, der NDR ziehe die Produktion eines Scripted-Reality-Formats in Betracht, wurde und wird auch hier wieder voreilig geschlossen, der öffentlich-rechtliche Sender wolle es den kommerziellen Anstalten und ihren nachmittäglichen Schräglagen-Programmen nachtun. „Scripted Reality“ ist aber zunächst mal eine Genrebezeichnung. Und wie bei jedem anderen Genre kommt es darauf an, was man daraus macht. So weit aber ist die Berichterstattung bislang gar nicht vorgedrungen. Die vermeintliche Skandalmeldung war den meisten schon Inhalt genug.

Davon mal ganz abgesehen: So ziemlich jeder Dokumentarfilm basiert darauf, Realität in einem Skript zu erfassen. Auch das Subgenre Doku-Soap wird mittlerweile per se verächtlich gemacht. Vor Jahren bekamen Doku-Soaps wie „Die Fussbroichs“ und „Abnehmen in Essen“ (ab 28.12. in der Wiederholung auf Einsplus, Staffel 2 auch auf DVD erhältlich) noch Grimme-Preise. Und das mit Recht.

Derweil zeigte gleich die nächste Ausgabe der „Rundschau“, wie sehr es  heutigentags an Fachwissen hapert: Da wurde auf der Medienseite behauptet, die „Tagesschau“ habe „einst mit nur einer Sendung am Tag“ begonnen. Selbst bis zu Wikipedia, das sich ansonsten nicht unbedingt als Quelle empfiehlt, hat sich herumgesprochen: Ursprünglich gab es nur alle zwei Tage eine neue Ausgabe. Und an den Abenden dazwischen eine Wiederholung.

Geruhsame Zeiten waren das …


Fortsetzung der Kommune mit anderen Mitteln

Jetzt wird also der langjährig WG-erfahrene Rainer Langhans definitiv an der Sendung „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ mitwirken und damit den bislang sträflich unterbewerteten satirischen Gehalt dieser aus angelsächsischem Humorverständnis (Originaltitel: „I’m A Celebrity… Get Me Out of Here!) hervorgegangenen Reihe womöglich noch um ein paar Grad schärfen.

Zumindest aber wird er deren Feuilletonfähigkeit deutlich erhöhen. Dem darf man an dieser Stelle schon mal vorausschicken, dass Langhans‘ Affinität zum Fernsehen sehr weit zurückreicht. 1970 spielte er in der zu Unrecht vergessenen satirischen ZDF-Reihe „Express“, die provokanter war als fünf „Heute Shows“ auf einem Haufen, sich selbst und ließ sich dort in der Prominentenrunde einer „Was bin ich?“-Parodie erraten. Später war er mal Regieassistent bei Fassbinder.

Er nimmt die Dschungelprüfungen also nicht unbedacht in Kauf. Das heißt, unbedacht schon, denn er muss ja im Freien campieren. Aber er weiß schon, was er tut. Und  er hat  dabei doppeltes Glück: Er kriegt neben einem beachtlichen Honorar ein Ticket nach Australien.

Und er wird nicht auf Tatjana Gsell treffen.

Marktlücke gestopft

Noch ist nicht Heiligabend, aber das vermutlich schönste Weihnachtsgeschenk liegt schon vor: Die grüne Plakette für das schmucke alte Auto, das trotz seiner edlen Form beinahe skrupellosen Umweltzonis zum Opfer gefallen wäre. Zum Glück gibt es jetzt doch endlich passende Rußpartikelfilter – habe schon Jahre vor Einführung der Umweltzonen immer wieder danach gefragt, aber die deutsche Wirtschaft will ja partout kein Geld verdienen. Die Nachfrage ist tatsächlich so groß, dass der Hersteller monatelange Lieferzeiten hat. Da scheint also  ein von der KFZ-Industrie offenbar erheblich unterschätzter Bedarf zu bestehen.

Norweger übertrumpfen Schweden

Beinahe unbemerkt und offenbar unbesprochen startete am 23.12. im WDR-Regionalprogramm die norwegische Kriminalserie „Codename Hunter“. Und siehe, es geht mal ohne genüsslich ausgeschüttete Blutsuppe nach Maßgabe Mankells und auch ohne die verschiedentlich vorzufindende Masche, die ermittelnden Polizisten als komplette Blödmänner hinzustellen. Die Fortsetzung folgt am 30.12. um 22.00 Uhr. Da sorgt schon allein für Spannung, ob das Niveau der ersten beiden, en suite ausgestrahlten Episoden gehalten werden kann.

Unterdessen setzt das Erste am 26.12. seine Reihe mit Mankell-Verfilmungen fort. (Wie oft hat der geschäftstüchtige Schwede seine Filmrechte eigentlich verkauft?) Und auch wenn Kenneth Branagh als bislang bester Wallander-Darsteller gelten muss und die unter britischer Federführung angestellten, handwerklich hervorragenden Verfilmungen manchen von Mankell niedergeschriebenen Blödsinn ausmerzen – in der Romanvorlage zu „Mörder ohne Gesicht“ stürzt Wallander mehrere Stockwerke in die Tiefe, bleibt gerade noch mit einem Fuß hängen und humpelt hernach beinahe unbeschadet nach Hause -, die infame Tendenz des Buches, unter dem Deckmäntelchen der Gesellschaftskritik fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren, bleibt auch in der Filmversion erhalten.

 

 

Dringend erbetenes Geschäftsmodell

Heute kam der noch eilig verschossene letzte Kodachrome 64 aus der Entwicklung und wurde mit leichter Wehmut in Empfang genommen. Kodak produziert den Film nicht mehr und stellt auch die Entwicklung ein. Paul Simon muss umdichten: „Kodak took my Kodachrome awa-a-a-ay …“

Eine Schande. Digital-Schnickschnack gibt es an jeder Ecke, aber einen Film wie diesen eben nicht. Könnte nicht ein tapferer mittelständischer Betrieb die Rechte erwerben und den Film weiterproduzieren? Selbst an dieser Stelle, wo Schleichwerbung sonst tunlichst vermieden wird, würde die wackere Tat gepriesen und das Lob der Unternehmung gesungen werden immerdar.

 

© Harald Keller

© Harald Keller

Was die Scheuklappe noch übrig ließ

Ein bisschen inkonsequent ist es ja schon, wenn jüngst nahezu sämtliche Medienseiten in Print und Web beklagten, dass künftig am Montagabend diese so genannte „Dokumentation“, bei der es sich in der Regel um pures Unterhaltungsfernsehen handelte, im ARD-Programm entfallen und durch eine Talkshow ersetzt wird (womit also in Wahrheit eine Re-Politisierung des Sendeplatzes vonstatten geht). Denn das Nacharbeiten von Talkshow-Inhalten ist doch mehr oder weniger zum Hauptgeschäft der so genannten „Fernsehkritik“ geworden (das Fernsehen kritisieren kann jeder. Aber loben – das will gelernt sein …).

Schaut man zum Beispiel just in diesem Moment auf das Web-Angebot der „Frankfurter Rundschau“ und klickt auf den Reiter „Fernsehkritik„, findet man 25 Rezensionen. 18 davon fallen unter das Subgenre der Talkshow-Nacherzählung. Den Rest machen aus: zwei Mal „Germany’s Next Top Model“, einmal „Wetten, dass …?“, der „Eurovision Song Contest“,  einmal Jauch-TV, einmal „Neues aus der Anstalt“ – und aus dem Bereich dokumentarischen Fernsehens gerade mal eine Reportage über „Digital Natives“. Und mit dieser Auswahl steht die „Rundschau“ nicht alleine.

Dieser Querschnitt spiegelt nicht einmal ansatzweise die Breite des tagtäglichen TV-Angebotes, vielleicht aber – Achtung, Google, es folgen vermarktbare Infos! – zeigen sich hier die Vorlieben des durchschnittlichen deutschsprachigen Medienredakteurs. Und abermals steht,  man kratzt sich ratlos am ausgemergelten Schädel, die Frage im imaginären Raum, den wir Internet nennen: Wenn den Freunden des dokumentarischen Fernsehens so viel an dieser Gattung liegt – warum berichten sie nie darüber?  Diese Dokumentation zum Beispiel war eine tolle Produktion, und zwar nicht nur für frühere K-Gruppen- und Politbüromitglieder, i wo. Gut gemacht, eben darum von jedermann goutierbar. Wohl dem, der eine hochwertige Fernsehzeitschrift bezieht. Von den Nörgel-, pardon, Fernsehseiten wird man ja nur noch selten gut beraten.

P.S. Harald Schmidt war heute in Bestform. Wurde auch schon lange nicht mehr rezensiert.

Leseangebote

Wer nicht nur die Standardphrasen der Pressekonferenz wiedergekäut haben möchte, findet zu Benjamin von Stuckrad-Barres Late-Night-Versuch hier einen, gemessen an den sonstigen Angeboten, fast schon alternativen Text. Einen kleinen Einblick in die Herstellung von wissenschaftlichen Dokumentationen mit Tricksequenzen gibt es hier.