Nebelkerzen in der „Tagesschau“

In den letzten Jahren sind Angehörige der unentschlossenen Generationen in den Journalismus eingewandert. Rupert Wiederwald beispielsweise berichtete dieser Tage in der „Tagesschau“: „Auch hier fahren nicht wirklich viele Züge.“
Warum diese schwachmatische Relativierung? Fahren nun Züge oder fahren sie nicht? (Sie fuhren nicht.)
Noch blöder sind Sätze wie „Die Kanzlerin konnte sich nicht wirklich durchsetzen.“
In so gut wie allen Fällen ist die Phrase „nicht wirklich“ eine völlig überflüssige Beigabe, ein geziertes, modisches Aufblasen des jeweiligen Wortlauts. Sie wirkt wie die Vermeidung einer klaren Aussage, wie die Vernebelung des eigentlichen Sachverhalts.
Bevor die Floskel von denkfaulen Synchronautoren als Übersetzung des angelsächsischen „not really“ herangezogen wurde, hatte sie übrigens eine ganz andere Bedeutung. Sie stand für gespenstische, märchenhafte, traumhafte, wirklichkeitsfremde, also „unwirkliche“ Wahrnehmungen. Um Einschränkungen auszudrücken, benutzte man Wendungen mit eindeutigerem Wortstamm wie „nur bedingt“, „nur begrenzt“, „nicht unbegrenzt“.

Auch eine bedrohte Art: der Bindestrich

Fast könnte man meinen, man hätte ein Modul zu einer Raumstation erworben. Da gibt es ein „SmartDevice“, einen „VarioSafe“, einen „VarioSpace“, einen „EasyTwist“, einen „HolidayMode“, einen „EasyFresh-Safe“. Die Rede ist von einem Kühlschrank, und der „EasyFresh-Safe“ nichts anderes als das Gemüsefach. Was ist falsch am Wort Gemüsefach? Es hat uns viele Jahre gute Dienste geleistet und uns nie belogen. Gemüse ist gesund, und wenn jemand „vom Fach“ ist, gilt ein solches Testat als Anerkennung.
Hingegen darf man füglich davon ausgehen, dass hinter verschlossener Tür des neu erworbenen Kühlschranks alles „fresh“ bleibt. Wenn nicht, ist das ein Grund zur Reklamation.
Konsequent durchgezogen wurde die Anglisiererei allerdings nicht. Wie ein Fremdkörper erscheint in der Bedienungsanleitung ein „Flaschenabsteller“. Da gibt man viel Geld aus und erhält nur einen schnöden „Flaschenabsteller“?
Ein „BottleRack“ hätte es doch mindestens sein dürfen.
Und übrigens: Hat jemand die verlorenen Bindestriche gefunden?

Widersprüche aus Prinzip?

Seit einiger Zeit scheint es in der journalistischen Praxis Usus geworden zu sein, Überschriften zu formulieren, die genau das Gegenteil dessen aussagen, was berichtet wird. Ein aktuelles Beispiel stammt von msn.com: „Richter verlangt vom Repräsentantenhausausschuss die Herausgabe von Dokumenten, die zeigen, dass Trump seine Betrugstheorien aufgebauscht hat”.

Im zugehörigen Beitrag aber heißt es korrekterweise: „Bundesrichter David Carter hat den Anwalt John Eastman, eine Schlüsselfigur bei den Versuchen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, die Wahlergebnisse für 2020 anzufechten, angewiesen, dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses, der den Aufstand vom 6. Januar untersuchte, rund 30 Dokumente auszuhändigen, die beweisen würden, dass der Tycoon wusste, dass seine Behauptungen unbegründet waren.”

So etwas kann natürlich mal versehentlich passieren, wer wäre frei von Fehlern. Wenn man aber als Autor, wie dem Verfasser (nicht bei msn.com) mehrfach widerfahren, auf solche Irreführungen aufmerksam macht und der zuständige Redakteur auf dem Wortlaut der Überschrift beharrt, auf die sachliche Kritik sogar zornig reagiert, dann ist das doch eine etwas seltsame Auffassung journalistischer Tätigkeit.

Geziert, gedruckst, fachfremd – Feuilletonesisch in der Fernsehkritik

Es ging circa mit dem Siegeszug der „Sopranos“ einher, dass das deutsche Feuilleton Interesse am Wesen der Fernsehserie entwickelte. Man staunte über Begriffe wie „Showrunner“, „Writers’ Room“, „Miniseries“, das „Goldene Zeitalter des Fernsehens“, und weil man sie selbst zuvor nie gehört hatte, erklärte man das Bezeichnete kurzerhand zur Novität.
Nicht nur wurden, jegliche Sorgfaltspflicht in den Wind schießend, falsche Behauptungen aufgestellt, man pflegte seine Serienbesprechungen auch in einem gestelzten Feuilletonesisch abzufassen.
Viele Vertreter dieser Sparte schrieben ursprünglich über das Theater und schleusten Kriterien aus ihrem Erfahrungsbereich in die Film- und Fernsehkritik. Schauspielleistungen beurteilen sie nach den Maßgaben der Bühnenarchitektur, nicht nach den Erfordernissen der Kamera. Lob seitens feuilletonistischer Skribenten findet das theatralische Spiel, die ausholende Geste, die auch auf dem zweiten Theaterrang oben unterm Dach noch wahrgenommen werden kann. Die Kamera aber steht in Reichweite und verlangt von den Thespisjüngern subtileres Agieren, weil sie übertriebenes Chargieren naturgemäß potenziert. In der Praxis führt das zu Sätzen wie: „Höfels muss sich mit knappsten mimischem Proviant von einer Verdächtigten- [sic!] in eine Art Ersatz-Polizistinnen-Rolle hineinzwingen (…)“ Der Anwurf gilt der Schauspielerin Alwara Höfels, die in besagtem Fernsehkrimi dem Wesen einer frisch verwitweten, finanziell schlecht gestellten Mutter mit autistischem Kind sehr angemessen Ausdruck verlieh. Wer von Schauspielern Gesichtsakrobatik erwartet, sollte sich eine Saisonkarte für eine Freilichtbühne gönnen.
Einmal stieß im Rund eines Gremiums des Grimme-Preises ein Fernsehfilm auf bestenfalls verhaltenes Interesse. Eine Dame aber warf sich für die Einreichung in die Bresche mit der Begründung, der Hauptdarsteller feiere gerade in Berlin große Erfolge auf der Bühne. Deshalb sollte er nun also mit einem Fernsehpreis geehrt werden. Warum maßen sich solche Menschen an, über komplexe Künste wie Film und Fernsehen zu urteilen, die zu verstehen andere ein ganzes Hochschulstudium absolvieren? Umgekehrt lassen ja Fernsehkritiker auch das Theater unbehelligt. Sie haben mit ihrem eigenen Sujet genug zu tun.
Unkenntnis über die Aufgaben beim Dreh gebar einen verdrehten Stil, das Feuilletonesisch. „Unter der Regie von Anna Justice standen in weiteren Rollen (…) vor der Kamera von Matthias Neumann.“
Ähnlich zwei Beispiele, stellvertretend für viele aus der „F.A.Z.“: „So erstarrt, wie Tanja Schleiff die abermals traumatisierte Frau spielt, deren Eltern in ihrem Beisein ermordet wurden, agiert die Kamera von Wolfgang Wiesweg.“
„Andererseits wirkt die Bildsprache jetzt konziser, weil die Kamera von Andreas Doub sich konsequent anschleicht (…).“ Sind Matthias Neumann, Wolfgang Wiesweg und Andreas Doub
die Eigentümer der Kameras, haben sie sie für die Dreharbeiten leihweise zur Verfügung gestellt? I wo. Den beiden oblag die fotografische Bildgestaltung, in der Filmkunst die wichtigste Tätigkeit. Und ist die Kamera von einem bösen Geist besessen, dass sie sich mit konziser Wirkung konsequent anschleicht?
Eine gute Darstellerleistung kann durch eine schlechte Kameraführung zunichte gemacht werden. Umgekehrt kann ein guter Kameramann einer schlechten schauspielerischen Darbietung mit etwas Geschick und im Zusammenspiel mit dem Schnittmeister eventuell noch aufhelfen. Ava Gardner arbeitete nur mit Kameraleuten, von denen sie wusste, dass sie unter deren Lichtführung gut aussehen würde. Josef von Sternberg und seine Kameraleute verwendeten viel Zeit, um sicherzustellen, dass ein zarter Schatten unter Marlene Dietrichs Jochbein lag.
Warum ist es der feuilletonistischen Filmkritik nicht möglich, diesen angesehenen Berufsstand beim Namen zu nennen: Kameramann/Kamerafrau oder auch Bildgestalter/Bildgestalterin. Es hilft schon weiter, sich einfach mal Vor- und Nachspann anzuschauen.
Sprachhemmungen gibt es auch beim ehrenwerten Beruf des Drehbuchautors und der -autorin: „Auch gibt ihr das Drehbuch von Zora Holtfreter überraschende Sätze an die Hand.“ Gespenstisch – Drehbücher, die Dinge anreichen können … Und was macht man mit Sätzen in der Hand? Sollten sie nicht eher dem Munde entfleuchen? In der Praxis war es die Autorin Zora Holtfreter, unter dem Namen Zora Holt bekannt als Schauspielerin, die „überraschende Sätze“ ins Drehbuch schrieb und der Darstellerin zur Interpretation überließ.
An dem nachfolgend besprochenen Film waren offenbar gar keine menschlichen Wesen mehr beteiligt: „Buch und Regie verzichten jedoch darauf, die Geschichte fortan als Krimi zu erzählen.“ Ist es schon so weit gekommen mit der künstlichen Intelligenz?
Der Filmschnitt findet in Kritiktexten dieser Art so gut wie keine Beachtung, ist aber ebenfalls wesentlich für die Ästhetik und Wirkung sowohl filmischer Erzählungen wie auch der dokumentarischen Formen.
Zu bestem Feuilletonesisch inspirierte auch der Blick auf einen „… Krimi der ARD aus Dresden, wo Gorniak und Winkler, Karin Hanczewski und Cornelia Gröschel, im Vorspann zu Gorniaks Geburtstagsfeier aufbrechen.“ Ein feierwütiges Frauenquartett? Mitnichten. Hier werden Rollen- und Schauspielerinnennamen aufs Verwirrendste gereiht. Weniger gestelzt und üblich, weil lesefreundlicher wäre: Gorniak (Karin Hanczewski) und Winkler (Cornelia Gröschel). Die beschriebene Szene ereignete sich übrigens auch nicht wie behauptet im „Vorspann“ – das ist der Teil mit den vielen Namen –, sondern im Rahmen der Exposition.
Von all den bunten Fernsehbildern wohl vollends verwirrt berichtet der Berliner „Tagesspiegel“: „Den Film wie diesen hier kümmert Kunst nur, wenn sie Anlass für Verfolgungsjagden in Archiven gestattet.“
Immerhin erhält die Leserschaft mit solchen Sätzen ein deutliches Signal. Verrutscht der Jargon tief ins Feuilletonesische, empfiehlt es sich, schnellstens weiterzublättern eingedenk Harry Frankfurts klugen Worten: „Unsinn ist ein größerer Feind der Wahrheit, als es Lügen sind.“
Am Ende steckt der Kokolores gar noch an.

Reizwortjournalismus – Wie die Suchmaschinenoptimierung die Berichterstattung korrumpiert

Es braucht keine gezielte Suche, um zu erkennen, dass der Streaming-Anbieter Netflix in der Medienberichterstattung eine Vorzugsbehandlung erfährt. Auf der Webseite tvspielfilm.de findet man gleich neben den „TV-Tipps des Tages“ den Anreißer zu dem Beitrag „Diese Netflix-Serien werden 2022 abgesetzt“. Scrollt man ein wenig, gibt es nochmals die Möglichkeit, zu diesem Text zu wechseln. Direkt daneben: „Netflix setzt nächste Serie ab“. Und darunter: „Die besten Netflix-Serien 2022“. Nochmals einige Klicks tiefer: „Die besten Netflix-Filme“. Unter der Rubrik „Streaming- und Serien-News“ in fast voller Seitenbreite: „Neu bei Netflix im März 2022“. Kein anderer Anbieter dieser Sparte wird bei tvspielfilm.de in ähnlichem Umfang berücksichtigt.

Kein Einzelfall.

Lesen Sie weiter in der aktuellen Ausgabe des „Medium Magazins”.

Was sich 2022 ändert

2022 treten im Satzbaugewerbe und in den Wortdrechselstuben neue Verordnungen in Kraft. Die Verwendung des Verbs „ausgebremst“ bedarf künftig einer schriftlichen Genehmigung. Sportmetaphern wie „Auszeit“ und „in den Startlöchern“ sind nur noch ausgebildeten Fachredakteuren gestattet. Das Adjektiv „zeitnah“ wird dauerhaft durch „kurzfristig“ ersetzt. Die öffentliche Nutzung wird eingestellt.

In Redaktionen mit mehr als fünf Mitarbeitern sind künftig zertifizierte Anglizismusbeauftragte vorgeschrieben. Die Ausnahmegenehmigungen für Phrasen wie „nicht wirklich“, „willkommen zurück“, „wir sind Familie“, „wir müssen reden“, „das ist Geschichte“ werden aufgehoben. Stattdessen unterliegen sie ab dem 1.1.2022 einem strikten Nutzungsverbot.

Die wörtliche Übersetzung von „selftitled“ zu „selbstbetitelt“ wird künftig mit einem Entzug der Schreiberlaubnis für eine Dauer von mindestens sechs Monaten geahndet. „Publicist” ist künftig korrekt mit „Pressesprecher/in”, „pathologist” mit „Rechtsmediziner/in” und „decorator” mit „Innenarchitekt/in” oder „Innenausstatter/in” zu übersetzen.

Leise tönt das Todesglöckchen

Habe gerade bei faz.net wieder eine dieser journalistischen Denksportaufgaben entdeckt. Am 3.3.2020 hieß es dort in einer Einleitung: „Beim Grimme-Preis zeigt sich, dass die Tage des linearen Fernsehens gezählt sind. Denn einige wichtige Preise gehen an Streamingdienste.“ Lesen wir weiter.

„Einige wichtige Preise“ sind in Zahlen ausgedrückt drei von sechzehn. In Ziffern: 3. Zwei gehen an Serienproduktionen, einer an ein Unterhaltungsformat. Alle Preise im Bereich Kultur & Information sowie Kinder & Jugend – in den Augen von FAZ-Autoren offenbar eher unwichtig – bleiben beim linearen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Da dessen Tage laut faz.net gezählt sind – müssen wir demnächst auf qualitative und auszeichnungswürdige Informations- und Kindersendungen verzichten? Oder helfen Netflix, Amazon und Konsorten aus? Und wenn ja, was soll’s kosten?

Subjektive Wahrnehmungen

Thema: Grimme-Preis-Nominierungen.
Schlagzeile in der „Stuttgarter Zeitung“: „Drei Netflix-Serien dürfen sich Hoffnung auf Auszeichnung machen“
Zwischenüberschrift weiter unten: „Öffentliche stark vertreten“
Mal schnell durchgezählt: „Öffentliche“ allein in den Sparten Information/Kultur/Journalismus: 23 Nominierungen. Netflix: 0.
Leserseitige Schlussfolgerung: „Öffentliche“ dürfen sich Hoffnung auf Auszeichnung machen

Post von Casdorff

Seltsame Zeilen finden sich im Web-Angebot des Berliner „Tagesspiegels“ mit Datum 23.9.2015. Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff schreibt dort unter anderem:

„Alle nehmen Anteil, alle sehen das Unglück, alle wollen helfen. Fast alle. Und das Fernsehen? Das Öffentlich-Rechtliche, wie niemand sonst berufen zur Berichterstattung, zur authentischen Nachricht, live, aktuell, spielt seine Stärke im Geschehen um die Geflüchteten, Schutzsuchenden nicht aus. Anstatt das Programm grundlegend zu ändern, Nachrichtensender zu sein mit Reportagen und Interviews zum Beispiel, von der österreichisch-ungarischen Grenze, wo ein kleiner Ort Tausende aufnimmt, bringen sie irgendeinen zeitlosen Krimi.“

Der Leser staunt und rätselt: Die vom Pressegesetz aufgegebene Sorgfaltspflicht vergessen? Ein Fall von Realitätsverlust? Billige Polemik, mal ein bisschen den Wagner markieren? Dann dämmert’s einem: Der Mann hat versehentlich Netflix angeklickt und mit einem Fernsehsender verwechselt. Verzeihlich, das kann natürlich mal passieren.