Begründungen, Befunde, Befindlichkeiten

Ein sehr zutreffender Kommentar zur diesjährigen Vergabe des Grimme-Preises, zu den dortigen Praktiken generell erschien dieser Tage in der „Frankfurter Rundschau”. Die Kritik des Autors Moritz Post an der Begründung der – völlig berechtigten – Preisvergabe an Jan Böhmermann hat Hand und Fuß. Doch gilt nicht nur für dieses Fallbeispiel, was Post konstatiert: Es offenbart sich bei der Grimme-Preis-Jury ein Sendungsbewusstsein und eine unangenehme moralische Überlegenheit, wenn sie die vermeintlich Seriösen in unserer Welt als Clowns „degradiert“.

Seit je fallen manche Jurybegründungen gewunden, verquast, herablassend aus. Daraus spricht die von Post aufgespürte Haltung. Oft aber fehlt es auch schlicht an einem geeigneten Vokabular, Resultat eines Mangels an objektiven Kriterien und Ausweis dessen, dass manche Preisvergabe mehr von Idio­syn­kra­sien als von einem fachlichen Urteil über die erbrachte kreative und handwerkliche Leistung bestimmt wird. Das reicht bis hin zur schlichten Ignoranz. Sinngemäßes Zitat eines früheren Jurymitglieds, das während der Sichtungen gern mal Zeitung las, statt sich seiner Aufgabe zu widmen: Mich interessiert nur, was ich auf dem Bildschirm zu sehen bekomme.

Von 1995 bis 1996 sendete die ARD in ihrem Vorabendprogramm mit der WDR-Produktion „Die Partner” eine moderne, zeitgemäße Serie. Die Hauptrollen spielten die Größen Jan Josef Liefers, Ann Kathrin Kramer, Ulrich Noethen und Heinrich Giskes. Regie führten unter anderem der mittlerweile renommierte und vielfach preisgekrönte Samir („Baghdad in My Shadow”) und der später zeitweilig in Hollywood tätige Josef Rusnak. Diese Serie fiel aus dem damaligen Rahmen, weil die Autoren Ambivalenzen wagten, mehrdeutig erzählten und weil sich die Kameraleute Clemens Messow und Wedigo von Schultzendorff der gestischen Kamera bedienten, wie sie in den USA bereits in der Polizeiserie „Hill Street Blues” (ab 1981) angelegt und in den nachfolgenden Serienproduktionen „NYPD Blue” (ab 1993) und „Homicide: Life on the Street” (ab 1993) weiterentwickelt worden war. An eben dieser Kameraführung störte man sich im Grimme-Gremium, das über diese Serie zu befinden hatte, fand sie zu unruhig, nervös, verwirrend, erkannte gar nicht, dass bestimmte Szenen einer Episode andeutungsweise nur in einem Traum stattfanden. Mit anderen Worten: Man blieb um einige Jahre hinter der künstlerischen Entwicklung des Erzählfernsehens zurück.

Als aber 2010 die Regisseurinnen Doris Dörrie, Gloria Behrens, Vanessa Jopp diese Kameratechnik für die Serie „Klimawechsel” anwendeten, war die Jury begeistert. Eine Preisrichterin hatte zuvor von einer beteiligten Schauspielerin erzählt bekommen, dass sie und ihre Kollegen diese Art der Inszenierung schätzen, weil sie vor der Kamera gewisse Freiheiten bietet. Das galt 1995 auch schon, aber es dauerte, bis es in Marl, dem Ort der Preisvergabe, zur Kenntnis genommen wurde.

Einige Jahre später stand im Grimme-Institut die Vox-Produktion „Club der roten Bänder” zur Debatte, eine Adaption der katalanischen Serie „Polseres vermelles” von Albert Espinosa. Dessen Name indes wird in der Preisbegründung nicht genannt, obwohl sich die deutschen Autoren Arne Nolting und Jan Martin Scharf eng an die Originaldrehbücher gehalten hatten. Die damaligen Statuten des Grimme-Preises sahen vor, dass die Adaption einer ausländischen Serie mit dem Original verglichen werden muss. In der Nominierungskommission hatte man das unterlassen. Ein Verfahrensfehler, der aber von der Wettbewerbsleitung nicht so gesehen wurde.

In der Jury dann wurde auf Eigeninitiative eines Mitglieds die Pilotfolge des Originals eingespielt. Ein anderer Preisrichter, großer Befürworter der Serie, zeigte sich dann „schockiert” angesichts der offensichtlichen Nähe von Original und deutscher Bearbeitung. Er überwand glücklich seine Erschütterung, indem er bekanntgab, er werde die Übernahme der Drehbucharbeiten von Albert Espinosa als „kreative Entscheidung” bewerten. Und die war seiner Meinung nach preiswürdig. Eine selbstherrliche Missachtung der Leistung von Albert Espinosa, der in der Serie eigene Erlebnisse verarbeitete und an allen Drehbüchern der ersten Staffel beteiligt war. Übrigens war er bei den Dreharbeiten zur deutschen Staffel im Kölner Studio zu Gast, also auch in dieser Hinsicht eng mit der deutschen Produktion verbunden.

Die Mehrheit der Marler Jury scherte all das wenig. Der Name Albert Espinosa fiel erst, als Arne Nolting und Jan Martin Scharf bei der Übergabe der Trophäe sinngemäß auf dessen fabelhafte Vorarbeit hinwiesen. Die beiden Preisträger also verhielten sich im Hinblick auf die Anerkennung der Autorenschaft und die damit verbundene künstlerische Errungenschaft fairer als die Nominierungskommission, die Jury und der Ausrichter des Grimme-Preises.

Das Unterschlagen von Informationen kann zur Lüge führen

Und weiter geht es mit dem Philosphieren über Fernsehserien bei aufgestellten Scheuklappen, nämlich mit unverbrüchlich starrem Blick auf „The Sopranos“, „The Wire“ und „Breaking Bad“. Aktuell meldet die NZZ: „Fernsehserien wie «The Sopranos» oder «The Wire» erkunden seit Ende der neunziger Jahre die Gesellschaft der USA.“ Könnte denn nicht zumindest eine Zeitung dieses Ranges mal jemanden an das Thema setzen, der auch die gesellschaftlichen Erkundungen von „Polizeirevier Hill Street“ (1981-1987), „Miami Vice“ (1984-1989), „Crime Story“ (1986-1988), „L.A. Law“ (1986-1994), „Wiseguy“ (1987-1990), aller Serien von David E. Kelley usw. usf. in seine Überlegungen einbezieht?

Eine kurze Geschichte der epischen Fernseherzählung

Deutsche Rezensenten sind schwer auf „Wire“, aber nicht auf Draht

In der“ taz“ beginnt eine Besprechung der neuen ZDF-Serie „Die letzte Spur“ mit der folgenden Passage:

„Fernsehen ist das neue Kino, amerikanische TV-Serien haben das horizontale, längerfristige Erzählen neu definiert, die großen Romane der Gegenwart heißen „The Sopranos“ und „The Wire“. Das wird derzeit ständig geschrieben. Es stimmt ja auch.

Aber es sind nicht allein die Amerikaner – die Deutschen waren im horizontalen Krimi-Gewerbe zwischenzeitlich auf Augenhöhe, annähernd, nicht ganz. Mit Dominik Grafs und Rolf Basedows „Im Angesicht des Verbrechens“ (ARD) und Orkun Erteners „KDD – Kriminaldauerdienst“ (ZDF). Was in New Jersey und Baltimore geht, geht auch in Berlin.“

Da wurde mit praller Stilblüte, aber recht bündig zusammengeführt, was dem einfachen fernsehenden Volk in den letzten Monaten an schierem Unfug aufgetischt wurde, vom großsprecherischen, aber rotzjungendummen Bescheidwissertonfall – „Fernsehen ist das neue Kino“ – bis hin zu der verblasenen Thesenstellung. Da ist plötzlich alles neu und es scheint eine Revolution im Gange; die „F.A.Z.„, die es eigentlich besser wissen sollte, glaubte entdeckt zu haben, mit den besagten neueren US-Serien seien die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts ins Fernsehen eingegangen. Auch bei den klugen Köpfen aus Frankfurt wurden die Backen mächtig geplustert: „Der Roman der Gegenwart ist eine DVD-Box“. Heiliger Charles Wilp, was für ein Satz. (Zur Ehrenrettung: Hier immerhin gab der Schriftsteller Martin Kluger, nomen es omen, ein paar kluge Worte zu Protokoll. Bitte insbesondere zu beachten: „Doch damals hat das Feuilleton geschwiegen, das war pfui.“ Dieses „Damals“ ist noch nicht gar so lange her. Kein Wunder also, dass die Herrschaften sich nicht auskennen; atemraubend, fast schon niederschmetternd aber der mit schierer Unverschämtheit gepaarte Furor und die Emphase, mit denen sie diese Defizite wettzumachen versuchen.)

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