Der Korrektor: Die „neuen” Serien

Fernsehserien sind in Feuilleton und Wissenschaft zum Modethema geworden. Beim medienwissenschaftlichen Blick zurück auf Veröffentlichungen zum Thema aus den letzten zwanzig Jahren stößt man unweigerlich auf eine Fülle an Irrtümern, Missverständnissen, Fehlinterpretationen. Aus der eigenen publizistischen Praxis darf berichtet werden, dass manche Redaktionen sogar an falschen Aussagen festhalten, obwohl sie es besser wissen. Ein Beispiel ist die Behauptung, das Remake von „House of Cards“ sei die erste Eigenproduktion von Netflix gegeben. Tatsächlich hatte Netflix die Rechte an der Produktion angekauft, und das zunächst auch nur für den US-amerikanischen Markt. Leicht erkennbar daran, dass „House of Cards“ außerhalb der USA bei anderen Anbietern Premiere feierte. Die Logik dahinter: Netflix würde niemals die Erstauswertung einer derart teuren und prestigeträchtigen Produktion den Mitbewerbern überlassen.

Manche dieser Falschinformationen sind bereits fest verankert in der öffentlichen Meinung. Korrekturen sind angebracht, auch wenn sie vermutlich in der Weite des Webs versickern, ergo unbeachtet bleiben werden.

Exemplarisch für die Herangehensweise an das Sujet ist ein Text aus der „tageszeitung“ aus dem Jahr 2013, verfasst von Ines Kappert, die laut beigefügter Biografie in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft promovierte und die neben Feminismus, Männlichkeitsentwürfen, Syrien, Geflüchteten auch TV-Serien als Themenschwerpunkt angibt.

Der Text ist überschrieben mit »Immer schön unberechenbar bleiben«. Bereits die taz-typisch verwirrende Unterzeile »Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue Qualitätsserien.« lässt stutzen. Die »neuen Qualitätsserien« können doch früher gar nicht als »Trash« gegolten haben, denn wenn es sie damals schon gegeben hätte, wären sie nicht »neu«.

Es erhebt sich zudem die Frage, bei wem Fernsehserien als »Trash« galten, und wann das gewesen sein soll. Wird hier womöglich eine Zonengrenze gezogen zwischen elitären Milieus und kulturell minderbemitteltem Pöbel? Bei manchen Fundstücken kommt schon mal der Eindruck auf, dass bildungsbürgerlicher Hochmut die Feder führte.

Gelernte Medienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wie auch erfahrene Medienjournalisten und viele fernseherfahrene Zuschauer wissen, dass es ehedem schon vom Publikum angenommene hochwertige TV-Serien gab, desgleichen einen seit circa 1970 zügig voranschreitenden wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema.

DANN HAT ES BOOM GEMACHT

Zitat:»Es war ein langer Weg von den ›Waltons‹, den ›Hesselbachs‹, der ›Schwarzwaldklinik‹, von ›Dallas‹ und ›Dynasty‹ zu ›Homeland‹, ›Kommissarin Lund‹, ›Breaking Bad‹ oder ›Borgen‹. Aber seit rund zehn Jahren ist sie da, die neue Fernsehunterhaltung, und sie boomt weltweit. Auf einmal ist das Fernsehen wieder zu einem interessanten Medium geworden, zumindest für die NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern.«

Zaghaft sei’s gefragt: Kam denn diese »neue Fernsehunterhaltung« wie eine Epiphanie über uns? Fiel sie vom Himmel, wurde sie uns von den Göttern gesandt? Jedoch offenbar nur den »NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern«.

Folglich ist das Fernsehen für Lineargucker weiterhin uninteressant geblieben. In diesem Publikumssegment also »boomt« es demnach nicht. Im Schnitt zehn Millionen Zuschauer beim „Tatort“ schlagen nicht zu Buche. Die vier bis fünf Millionen, die regelmäßig dienstags die Serien im Ersten einschalten, kann man ignorieren.

Warum eigentlich beschränkten die Götter ihre Wohltaten auf dänische und US-amerikanische Serien? Gab es denn gar nichts in Großbritannien, Frankreich, Benelux, Österreich, Polen, Tschechei? Australien, Asien, Afrika? Waren „The Prisoner“, „Widows“, „The Singing Detective“, das Original von „House of Cards“, „Capital City“, „State of Play“ ohne Bedeutung?

Die Produzenten von „24“ sahen das anders und holten sich Rat von Lynda La Plante, der britischen Autorin von Qualitätsserien wie „Widows“, „Prime Suspect“ und „Trial & Retribution“, deren Stil in „24“ anklingt.

ZAHLENSPIELE

»Boom« ist ein relativer Begriff, was folgende Zahlen belegen. „Breaking Bad“ begann in den USA mit durchschnittlich 1,23 Millionen Zuschauer, steigerte sich mühsam, blieb aber noch in den Staffeln 4 und 5a unter drei Millionen Zuschauern. Erst einige Folgen, nicht alle, der sechsten Staffel erreichten die Sechs-Millionen-Marke.

„Mad Men“ fand im besten Fall 3,29 Millionen Zuschauer, der Durchschnitt lag deutlich darunter.

Demgegenüber haben wir klassisch strukturierte episodische Serien wie „The Mentalist“ – sie startete mit 14,9 Millionen Zuschauern, erreichte mit der sechsten Staffel rund neun Millionen Zuschauer. Der Pilot von „Person of Interest“ wurde von 13,33 Millionen Menschen eingeschaltet. Ende der ersten Staffel gesellten sich noch ein paar dazu, in der Summe waren es 13,47 Millionen. In der fünften Staffel wendete sich das Publikum ab, aber mit 6,51 Millionen Zuschauer beim Finale liegt die Serie immer noch besser im Rennen als „Breaking Bad“ und „Mad Men“.

„Navy CIS“ begann mit 11,84 Millionen Zuschauern, erreichte in der Spitze 21,34 Millionen und erzielt auch in der 19. Staffel (!) im Schnitt über zehn Millionen Zuschauer pro Folge.

AKADEMISCHE ERKENNTNIS: FAMILIE FISHER UNTERSCHEIDET SICH VON FAMILIE HESSELBACH

Zitat:»Die Blaupause für den massiven Qualitätsschub im Fernsehen lieferten die HBO-Produktionen ›Sopranos‹ (1999-2007), ›Six Feet Under – Gestorben wird immer‹ (2001-2005) und ›The Wire‹ (2002-2008). Diese drei US-Serien nutzten das Format der Fortsetzungsgeschichte auf eine bis dahin ungekannte Weise.

Um die Differenz plastisch zu machen, hilft ein Vergleich mit ›Dallas‹ (CBS 1978-1991). (…) Zwar altern die Hauptfiguren, aber sie lernen genauso wie alle anderen überhaupt nichts dazu. Und auch das Setting um sie herum verändert sich nur unwesentlich. Das gleiche gilt für Vorgänger wie die ›Hesselbachs‹ (1960-1967) oder ›The Waltons‹ (CBS 1971-1981).«

Wenn eine kleine Berichtigung erlaubt ist: Eine Serie mit dem Titel „Hesselbachs“ gibt es nicht. Im deutschen Fernsehen liefen „Die Firma Hesselbach“ und „Die Familie Hesselbach“, die Fortsetzung trug den Titel „Herr Hesselbach und …“. Und der gewählte Vergleich hilft eher wenig. Erinnert sei daran, dass sich beispielsweise bei „Six Feet Under“ das Setting ebenfalls »nur unwesentlich« änderte. Und der Lerneffekt ist trotz des Altersunterschieds der Produktionen bei den Figuren von „Six Feet Under“ und den Serien um die Familie Hesselbach so unterschiedlich nicht. Beispiel: In der dritten Staffel wird Karl Hesselbach in den Stadtrat gewählt, dort lernt er und mit ihm die Zuschauerschaft eine ganze Menge über Lokalpolitik.

Es ist auch nicht ganz ohne Bedeutung, dass die Episoden der deutschen Serie monatlich ausgestrahlt wurden, also einer ganz anderen Dramaturgie unterlagen als Titel mit wöchentlichem Turnus.

EINE FRAGE DER WAHRNEHMUNG

Zitat: In den»neuen Serien«geht es»(…) vor allem um ein Nachvollziehen der Veränderung und des differenzierten Wahrnehmens und Erlebens einer Situation durch sämtliche Beteiligte.«

War nach diesen Maßstäben nicht schon „Peyton Place“ im Jahr 1964 eine »neue Serie«? Wie verhält es sich mit der britischen „Coronation Street“? Mit „M*A*S*H“, „St. Elsewhere“, „Ausgerechnet Alaska“, „Party of Five“, Anwaltsserien wie „L.A. Law“ und „I’ll Fly Away“?

EIN FALL FÜR DIE NOTAUFNAHME

»(…) der Streit um die richtige Sichtweise findet auch im Inneren der Hauptfiguren statt.«

Da kommt Sorge auf. Hoffentlich tragen die Hauptfiguren keine schwerwiegenden inneren Verletzungen davon, wenn die streitenden Parteien derart wüten.

INNOVATION: SERIENFOLGEN DAUERN JETZT 50 MINUTEN

Zitat:»In der Regel dauert bei den neuen Serien eine Episode fünfzig Minuten und es gibt zehn bis zwölf Episoden pro Staffel. ›The Wire‹ brachte es auf ganze fünf Staffeln, die Agenten-Thriller-Serie ›Homeland‹ ist bislang bei der dritten angelangt und noch ist kein Ende in Sicht.«

Ob es die Autorin wohl überrascht, dass eine fünfzigminütige Laufzeit als Norm gilt bei Produktionen, die für die Ausstrahlung in werbefinanzierten Sendern vorgesehen sind? Inklusive Werbung passen sie dann in das übliche Stunden-Schema. Wenn die Zahl der Staffeln als Rekorde vermeldet werden sollen, so fällt das Erreichte im Vergleich eher dürftig aus. „Law and Order“ bringt es auf 21 Staffeln, „Grey’s Anatomy“ geht ebenfalls in die 21. Runde, „Emergency Room“ endete nach der 15. Staffel. „Coronation Street“ läuft seit 1960 im britischen Fernsehen.

KAM DIE ERLEUCHTUNG WIRKLICH ERST SO SPÄT?

Zitat: »›Borgen‹ leuchtet ähnlich wie ›The Wire‹ und auch ›Homeland‹ das Zusammenspiel von Politik, Presse und Familie aus (…).«

In dem Punkt darf man behutsam ergänzen: „Borgen“ war kein Novum. Die dänische Serie hatte einen unmittelbaren Vorläufer in der niederländischen Produktion „Mevrouw Minister“, die auf Festivals und Fernsehmärkten gezeigt wurde und den dänischen Redakteuren kaum entgangen sein dürfte. Politische Themen in engerem Sinne verhandelten viele andere Serien, darunter „Tanner ʼ88“ (1988; Gewinner der goldenen Medaille in der Kategorie Best Television Series beim Cannes Television Festival) von Garry Trudeau und Robert Altman, „The West Wing“ (1999-2006), „State of Play“ (2003), „Commander in Chief“ (2005-2006) mit Geena Davis in der Rolle der ersten weiblichen Präsidentin der USA und nicht zuletzt „That’s My Bush!“ (2001) vom „South Park“-Team Trey Parker und Matt Stone. Im weiteren Sinne gehören auch die britischen Polit-Sitcoms „Yes, Minister“/„Yes, Primeminister“ (produziert 1979, gesendet 1980-1988, neu aufgelegt 2013) und „The Thick of It“ (2005, 2007 und 2012) in diesen Zusammenhang. Keinesfalls ausblenden darf man das britische Original von „House of Cards“ (1990) und dessen Folgeserien „To Play the King“ (1993) und „The Final Cut“ (1995), die zusammen eine zwölfteilige Trilogie ergeben.

TELEGENE ÜBERBEVÖLKERUNG

Zitat: »Im Laufe einer Serie bekommen es die ZuschauerInnen mit einer ganzen Heerschar von Charakteren zu tun.«

Die obige Beobachtung scheint nicht vollends durchdacht, denn sie gilt für nahezu jede Daytime- und Evening-Soap. Zum Beispiel für „Dallas“ und „Dynasty“, die ja oben auf einen Streich diskrediert wurden. Die bereits erwähnte britische Serie „Coronation Street“ erzählt seit 1960 von den Schicksalen der Bewohner einer ganzen Straße. Da kommt einiges an Personal zusammen.

BEFREIUNG AUS DEN KLAUEN DES PROGRAMMSCHEMAS

Zitat:»Möglich ist diese Komplexität nur aufgrund der DVD beziehungsweise der Streams auf bestimmten Webseiten. Die neuen Speichermedien und der Serienboom gehören zusammen. (…) Der Einzelne muss sich nicht mehr nach Sendeterminen richten, sondern kann die Serie sehen, wann immer es ihm passt.«

Jetzt verwundert aber, dass alle als Positivbeispiele aufgezählten Serie ihre Premieren im linearen Fernsehen hatten. „Die Sopranos“ starteten 1999, da war der Serienkonsum via World Wide Web noch nicht sehr weit gediehen. Zum Vergleich: Youtube wurde erst 2005 gegründet.

Hingegen erlaubte schon die Videokassette, eine Serie zu sehen, wann immer es dem Zuschauer passte. Was, wie die Älteren unter uns wissen, auch genau so praktiziert wurde.

Zitat: »Aber was ist mit der Ästhetik, was passiert auf der visuellen Ebene? Auch hier haben die neuen Serien dazugelernt, und zwar vor allem vom Kino. Die herkömmliche TV-Serie wird im Studio gedreht. Billiger ist Fernsehen nicht zu haben: Kein Wechsel der Drehorte und womöglich unpassendes Wetter bringen den Spielplan durcheinander (…). (…) Stattdessen sorgen eine überschaubare Anzahl von SchauspielerInnen mit schnellen pointenreichen Dialogen auf dem immergleichen Sofa oder am immergleichen Küchentisch für Unterhaltung.«

Schon grammatisch eine seltsame Aussage. Serien sind abstrakte Dinge, die können nichts dazulernen.

Wurden denn die »schnellen pointenreichen Dialoge« im Zeitalter der »neuen Serien« abgeschafft? Es gab Zeiten, da wurde genau diese Qualität seitens der Kritik gefordert. Man kann es den Leuten aber auch nicht recht machen …

Es wird das Selbstbewusstsein der Autorin hoffentlich nicht über die Maßen erschüttern, wenn sie erfährt, dass schon Episoden der deutschen Serie „Ihre Nachbarn heute Abend – die Familie Schölermann“ an Originalschauplätzen, zum Beispiel auf einem Passagierschiff, gedreht wurden. Auch die Hesselbachs gingen gelegentlich vor die Tür. Die Vorabendserie „Goldene Zeiten – Bittere Zeiten“ entstand in Baden-Baden, Paris, Wien, Marseille, Prag, „Sergeant Berry“ auf Mallorca. Für „Diamanten sind gefährlich“ und „Diamantendetektiv Dick Donald“ reisten die Hauptdarsteller nach Südafrika, für „Die Journalistin“ unter anderem an den Nürburgring, nach Amsterdam und nach Italien. Eine Episode spielt auf hoher See. Das ZDF ließ sich nicht lumpen und die Vorabendserie „I.O.B. – Spezialauftrag“ in Finnland, Belgien, Spanien drehen. Die ARD schickte die Heldinnen von „Okay S.I.R.“ buchstäblich in die Wüste, nach Rabat und Marrakesch, nach Marseille, Rom, Wien, Budapest, St. Mortiz. Zwar herausgepickt, aber keine Sonderfälle. Die Liste ließe sich fortsetzen.

EIN PAAR SHOTS ZUR ORIENTIERUNG

Zitat: »Die vernachlässigte Außenwelt wird nur über ›Orientierungsshots‹ eingeblendet – das Panorama von New York, die Ranch, die Lindenstraße. Alle diese Elemente finden sich auch in den neuen Qualitätsserien. Sie werden nun aber flankiert von cineastischen Elementen: So gibt es Außendrehs und auch aufwendigere Kamerafahrten.«

Nur ungern raubt man den jungen Leuten ihre Illusionen, aber Innendrehs sind eher die Regel als die Ausnahme. Seit je werden Kinofilme nach Möglichkeit im Studio gedreht. Das sind oder waren diese großen Gebäude auf den Geländen von Paramount, MGM, Warner Brothers, Babelsberg, Bavaria, Elstree, Pinewood mit der berühmten 007-Stage … Der Stab des Klassikers „Casablanca“ war nie in Casablanca, jedenfalls nicht im Rahmen der Dreharbeiten. Selbst der Flughafen wurde im Atelier nachgebaut. Alfred Hitchcock zog stets Dreharbeiten im Studio denen unter freiem Himmel vor. Er hat trotzdem ein paar anständige Filme zustande gebracht.

Auch er nutzte »Orientierungsshots“, in der Fachsprache Establishing Shots und schrieb dazu: »Washington ist ein Blick auf das Kapitol, New York ein Wolkenkratzer. Die Verwendung einer unbekannten Ansicht würde das Publikum verwirren …«

Establishing Shots gehören schlicht zur allgemeinen Filmsprache. Sie entstammen den eigenen Archiven oder werden von Agenturen bezogen.

WO WAREN DIE GUTEN SCHAUSPIELER ALL DIE JAHRE?

Zitat: »Im Post-TV hat das Fernsehen die Schauspielkunst wieder entdeckt. In fast allen neuen Serien finden sich außergewöhnliche DarstellerInnen, und zwar in Haupt- und Nebenrollen.«

Dann müssen wir davon ausgehen, dass Schauspieler und Schauspielerinnen wie Steve McQueen, Clint Eastwood, John Cassavetes, Richard Roundtree, Mia Farrow, Ryan O’Neal, Fred Astaire, Nick Nolte, David Niven, Charles Boyer, James Earl Jones, Alfre Woodard, Sally Field, George Clooney, Burt Lancaster, Robert Mitchum, Meryl Streep, Geena Davis, André Braugher, Edie Falco, Isabella Hofmann, Denzel Washington, Ned Beatty, Glenn Close, Sir Ian McKellen, Anthony Hopkins, Al Pacino wohl zu den minderbegabten Knallchargen zählen. Sie alle und viele weitere renommierte und preisgekrönte Kolleginnen und Kollegen sah man in dem, was die Autorin wohl als „Prä-TV“ bezeichnen würde.

Aber Filmauftritte sind eine völlig unnötige Reverenz. „St. Elsewhere“, „Hill Street Blues“, „Emergency Room“, „Homicide – Life on the Street“, „American Gothic“, „Profit“, „The Shield“ – lang ist die Liste der Serientitel, in denen man extraordinäre Leistungen von Schauspielerinnen und Schauspielern bewundern kann, die primär im Fernsehen gearbeitet haben und in ihrem Metier höchste Anerkennung genießen.

Überdosis Sauerkraut

Das öffentliche Staunen über den ausbleibenden Publikumserfolg der RTL-Fernsehserie „Deutschland 83“ nährte Medienredaktionen und verwandte Fächer bis weit über das Finale des Achtteilers, das am 17. Dezember die Handlung mit der vorläufigen Rettung der Welt vorerst abschloss. Die Spekulationen über die mangelnde Nachfrage reichten hierhin und dorthin, nur das eigene Metier, die programmbegleitende Publizistik, stand außer Diskussion.
Die publizistischen Wellen waren bereits hochgeschwappt, nachdem zwei Folgen der Serie bei den Berliner Filmfestspielen im Frühjahr 2015 gezeigt worden waren. Zwei Folgen von acht, und trotzdem waren sich viele Betrachter, die dem Ereignis beiwohnen durften, sicher, hier ein großes Werk gesehen zu haben.
Die Berichterstatter blieben dieser Tendenz in den folgenden Monaten treu und stellten sich sogar beflissen in den Dienst der Sache. Immerzu gab es etwas zu melden; die Presseabteilung des Produktionsunternehmens Ufa Fiction sorgte kräftig für Nachschub. Großes Getöse erzeugten ausgewählte, weil wohlwollende US-amerikanische Kritiken, der Verkauf der Serie in die USA und der Umstand, dass sie dort sogar vor der Deutschland-Premiere gezeigt werden würde.

Das Märchen vom US-Erfolg

Die Presseartikel folgten oftmals sehr eng den Verlautbarungen der Herstellerfirma und den nicht wenigen Stellungnahmen und Interviewaussagen des fleißig werbetrommelnden Produzenten Nico Hofmann. Immer wieder war davon die Rede, „Deutschland 83“ sei in den USA mit Erfolg aufgeführt worden, mit „großem Erfolg“ gar. Bild.de tönte gewohnt reißerisch: „In den USA ist die Serie ‚Deutschland 83‘ jetzt schon ein Riesen-Erfolg!“
Der Redakteur eines Tageblatts beantwortete einen korrigierenden Hinweis sinngemäß mit den Worten: Nico Hofmann hat das aber so gesagt! Nico Hofmann – in den Augen deutscher Journalisten unanfechtbar? Ein Pate? Gar schon Papst?
Selbst der über „Deutschland 83“ deutlich skeptischer urteilende FAZ-Redakteur Jochen Hieber munkelte in seiner Rezension vom 26.11.2016 von einem „ferne[n] Erfolg“ und nobilierte nebenbei den ausstrahlenden Sender SundanceTV mit dem Hinweis, dieser sei „Mitte der neunziger Jahre von Robert Redford gegründet“ worden. Tatsächlich war die Sendergründung Ergebnis eines Joint Ventures. Redford war eine der treibenden Kräfte und firmierte in der Anfangszeit als „Creative Director“. Der heutige SundanceTV ist ein kleiner Spartensender mit geringer Reichweite. Dort brachte es „Deutschland 83“, in der Spätschiene ausgestrahlt im Original mit englischen Untertiteln, zum Auftakt auf 66.000 Zuschauer. Die höchste Reichweite lag bei 143.000 Zuschauern.
Im Gros wurde die Berichterstattung in Deutschland bestimmt von eilfertig weitergereichtem PR-Geplapper und sogar von Falschmeldungen wie der, wonach „Deutschland 83“ die erste je in die USA verkaufte deutsche Serie gewesen sei. Man mag gar nicht glauben, dass den vielen Redakteuren, die zur Streuung dieses von der dpa stammenden Humbugs beitrugen, der Fehler nicht aufgefallen sein soll. War es der Wunsch, von dem vermeintlich sensationellen Gehalt der Meldung zu profitieren? Wollte man der Serie durch diese Lügengeschichte aufhelfen?

Aus egozentrischer Perspektive geurteilt

Als dann zum Sendestart in Deutschland nur wenige Zuschauer einschalteten und die Quoten sogar von Folge zu Folge sanken, reagierten die Claqueure mit Entsetzen. In der Medienkolumne „Altpapier“ vom 21.12.2015 notierte Frank Lübberding beiläufig: „Dabei hatte diese Serie alles, was Kritikern ansonsten gefällt.“ Problem benannt, aber offenbar nicht erkannt.
In ihren Jubelarien und Lobeshymnen hatten „die Kritiker“, viele davon Vertreter einer ahistorisch und ohne nachvollziehbare Kriterien, oft auch nach überkommenen, mehr an einer theatralischen als filmischen Ästhetik orientierten Maßstäben urteilenden Berufsuntergruppe, die RTL-Produktion mit hochrangigen Serien wie „Breaking Bad“, dem US-Remake von „House of Cards“, „Mad Men“ verglichen. Und egozentrisch ihr eigenes Sehverhalten auf das große Fernsehpublikum projiziert. Ein eklatanter Fehlschluss: All diese Importserien hatten in Deutschland kaum Zuspruch gefunden. „Mad Men“ wurde sogar im Herkunftsland nur von einer winzigen Minorität goutiert und blieb dort nur aus Prestigegründen im Programm. Einem breiten Publikum – der sich im Überschwang verlierende Chor reichte vom Intelligenzblatt über die Web-Publizistik bis zur Lokalzeitung – wurde folglich etwas angepriesen, was ihm schon vorher nicht zugesagt hatte. Und das auch noch mit einer fragwürdigen Rhetorik, die bei echten, langjährigen Serienfans nur Argwohn wecken konnte.
Verstiegene Übertreibungen wie die, „Deutschland 83“ sei das deutsche „Homeland“, befeuerten dieses Misstrauen. Einige typische Zitate:
„(…) die wohl beste Serie, die RTL jemals in Auftrag gegeben hat“ (Bild.de)
„(…) die erste Folge der besten deutschen Serie circa seit Menschengedenken“ (Zeit.de)
„(…) setzt neue Erzählstandards für das deutsche Fernsehen“ (Spiegel.Online)
Es konnte kaum anders geschehen: Die Premiere ging über die Bühne – und der Kaiser war nackt. Eine unglaubwürdige Exposition, eine seltsam mäandernde Handlung ohne innere Spannung, blasse Charaktere ohne Bezugspunkte für den Betrachter, eine reizlose Inszenierung auf gewöhnlichem TV-Film-Niveau, absurde Intermezzi wie jenes mit der mordlüsternen Chinesin, Schauspieler mit Plakattafelmimik – seht her, ich bin ein ostdeutscher Stasi-Fiesling!
Auf der Web-Seite des Berliner „Tagesspiegel“ schrieb ein Zuschauer am 10. Dezember unter anderem: „Ich habe mich wirklich darauf gefreut – und wurde maßlos enttäuscht. Bei der ersten Doppelfolge bin ich fast eingeschlafen. Es hat mich einfach nicht gepackt.“ Ein anderer monierte mit gleichem Datum: „Man merkt stets und immer, dass man sich innerhalb einer Serie befindet. Schlechte, teilweise grottenschlechte, hölzerne und getriebene Dialoge.“

Man glaubt es nicht

Diese Kritiken haben durchaus ihre Bewandtnis und es verwundert, dass eine große Zahl von Rezensenten großzügig über die erkennbaren Schwächen von „Deutschland 83“ hinweg sah oder aber als typisch amerikanische Lockerheit – die Ideengeberin Anna Winger ist US-Amerikanerin – ins Positive wendete.
Schon die Exposition musste aufmerksame Betrachter irritieren. „Deutschland 83“ erzählt eingangs von dem jungen DDR-Grenzsoldaten Martin Rauch (Jonas Nay), dessen Tante Lenora (Maria Schrader) ihn im Jahr 1983 zu einer Spionageaktion im Westen nötigt. Der etwa gleichaltrige Braunschweiger Oberleutnant Moritz Stamm soll in den Stab des NATO-Generals Wolfgang Edel (Ulrich Noethen) eintreten, wird aber auf dem Weg zum Standort Daun in der Eifel ermordet. An seiner Stelle beginnt Rauch, der dem Toten ein wenig ähnlich sieht, den Dienst bei Edel.
Rauch alias Stamm erhält quasi über Nacht eine Kompaktausbildung als Spion. Die reicht als Vorbereitung nicht aus, denn vorschnell in die Praxis entlassen, kann er keine westliche Telefonanlage bedienen, ist von Speisekarten und den Usancen in bundesdeutschen Hotels überfordert. Andererseits findet sich der etwas linkische Twen in der komplexen Institution Bundeswehr offenbar intuitiv zurecht. Die systemeigene Sprache, Dienstränge, Verhaltensweisen, Rituale – alles kein Problem.
Der gesamte Plan als solcher kann nicht überzeugen. Denn aus dem sozialen oder familiären Umfeld des ermordeten echten Moritz Stamm müsste nur mal eine Person Kontakt suchen und der Schwindler wäre aufgeflogen. In einer Folge kommt es tatsächlich zu einem derartigen Vorfall, der aber eher en passant und unglaubwürdig aufgelöst wird.
Unwahrscheinlich, dass die DDR-Auslandsaufklärung eine solche Panne mutwillig riskiert hätte. Zumal, und hier wird es nun endgültig absurd, der falsche Stamm im Umfeld von Generalmajor Edel mit Oberstleutnant Karl Kramer (Godehard Giese) bereits einen weiteren DDR-Spion antrifft. Der verfügt über einen hieb- und stichfesten Lebenslauf und genießt das Vertrauen Edels – eine erstklassige Quelle für seine Auftraggeber in der DDR, die durch den Amateur Rauch unnötig in Gefahr gebracht wird.

Von Nervenkitzel keine Spur

So lassen sich Folge für Folge gravierende Brüche in der Handlungslogik belegen. Über die könnte man buchstäblich hinwegsehen, wenn denn die Serie mit ausgemachten Nervenkitzel zu fesseln vermöchte. Die Spannungstechnik jedoch beschränkt sich zumeist darauf, den Agenten Stamm in eine Situation zu bringen, in der er von plötzlicher Entdeckung bedroht ist. Nicht nur nutzen sich diese Szenen sehr bald ab, sie wirken schlechterdings nicht: würde Stamm enttarnt, käme die Serie ja nicht auf acht Folgen.
Der von manchen Rezensenten angestellte Vergleich mit der US-Thrillerserie „Homeland“ ist entsprechend grotesk. Mal abgesehen vom Umstand, dass die jüngste Staffel von „Homeland“ inhaltlich so aktuell und brisant ist, wie es nur eben geht – nach den Pariser Terroranschlägen sahen sich die Produzenten sogar genötigt, per vorangestellter Einblendung auf den rein fiktionalen Charakter der Serie hinzuweisen –, wird dort sehr geschickt mit unterschiedlichen Spannungsfaktoren gearbeitet. Manche der zumeist gut ausgeloteten Figuren treiben mit Wissen des Zuschauers doppeltes Spiel, andere bleiben rätselhaft, Absichten werden angedeutet, dann wieder unterlaufen, vermeintlich absehbare Entwicklungen erfahren unerwartete Wendungen. „Deutschland 83“ mit seinen vorwiegend eindeutigen Charakteren kam dem nicht ansatzweise nahe.
Um nochmals eine Zuschauerstimme von der Web-Seite des „Tagesspiegels“ zu zitieren: „Deutschland 83 ist einfach langweilig. Ich sitze davor und merke, dass es mir eigentlich egal ist, wie es weitergeht.“

Eine überdimensionierte Portion Hausmannskost

Bei einer ernsthaften, von Sentiment ungetrübten Betrachtung kann es überhaupt nicht verwundern, dass die Serie Folge um Folge an Zuschauern verlor. Und das war augenscheinlich auch anderswo der Fall. Auf dem Web-Portal Internet Movie Database können angemeldete Nutzer ihre Punktwertungen abgeben. Die Auftaktfolge von „Deutschland 83“ wurde 140-mal beurteilt. Danach nehmen die Stimmen pro Folge – mit einer Ausnahme – kontinuierlich ab; bei der Schlussepisode „Able Archer“ votierten nur noch 58 Stimmberechtigte.
John Anderson vom „Wall Street Journal“ (11. Juni 2015) hatte es kommen sehen: „It’s certainly entertaining and well-done but, based on the first two chapters, the viewers are going to have to swallow quite a large helping of implausible sauerkraut to attain their suspension of disbelief.“
Sagen wir‘s mal so: Spätestens nach der dritten Folge war selbst gutwilligen Betrachtern der Appetit auf dieses saure Kraut vergangen.

Die Blochin-Gleichung

Blochin

Foto: Stephan Rabold / ZDF

Am kommenden Freitag zeigt das ZDF die Auftaktepisode des Fünfteilers „Blochin – Die Lebenden und die Toten“. Der Sender sprach schon früh, die Premiere fand im Rahmen der Berliner Filmfestspiele statt, von einer „horizontalen Erzählung“. Eines dieser Modeworte, mit denen Serienneulinge Kennerschaft simulieren.

„Blochin“ ist schlicht einer dieser Mehrteiler, wie wir ihn seit 1959 kennen, als mit „So weit die Füße tragen“ der erste aber sowas von horizontal erzählte sogenannte „Fernseh-Roman“ ausgestrahlt wurde, dem 1960 „Am grünen Strand der Spree“ und dann vor allem Kriminalmehrteiler etwa aus der Feder Francis Durbridges und seines Nachahmers Herbert Reinecker folgten.

Unklug vom ZDF, sprachlich den Anschluss an einen vom deutschen Feuilletonismus aufgebauschten Trend zu suchen, statt selbstbewusst auf eigene Erzähltraditionen und -errungenschaften zu verweisen. Wie nicht anders zu erwarten, nehmen Kritiker das ZDF beim deplatzierten Wort und werfen nun vergleichsweise die längst überstrapazierten und das Produktionsgeschehen gar nicht repräsentierenden Referenztitel „The Wire“ und „Breaking Bad“ in die Runde.

Auch sonst lassen sich im Rezensionswesen frappante Übereinstimmungen beobachten. Siehe unten. Ist man sich da rein zufällig einig bis aufs Wort? Die Kritik bei Tittelbach.tv erschien am 31. August 2015. Bei Quotenmeter, der Seite mit den lustigen Grammatikverrenkungen, wird als Veröffentlichungsdatum der 22. September 2015 angegeben.

Tittelbach.tv: „Das ZDF versucht sich mit Matthias Glasners Serie „Blochin“ am horizontalen Erzählen.“
Quotenmeter: „Das ZDF versucht sich an einer stimmungsvollen, horizontal erzählten Serie.“

Tittelbach.tv: „Blochin sucht Hilfe bei seinem Schwager – und dieser nimmt die Sache selbst in die Hand.“
Quotenmeter: „Denn als Blochin von einem schurkischen Ex-Kumpel erpresst wird, nimmt der ‚Lieutenant‘ die Dinge selbst in die Hand.“

Tittelbach.tv: „So entsteht eine lineare Und-dann-und-dann-Narration, die einen irgendwann ermüdet, weil nur Informationen angehäuft werden, anstatt dass sich der Film aus seiner Montage heraus selbst erzählen würde.“
Quotenmeter: „Das Drehbuch des generell sehr fähigen Regisseurs und Autors Matthias Glasner entwirft kein packendes Konstrukt, sondern listet die Geschehnisse bloß in einer ‚Und dann, und dann, und dann …‘-Aneinanderreihung haarklein auf.“

Tittelbach.tv: „Das Erzählte wäre passend für einen dreistündigen Zweiteiler.“
Quotenmeter: „Die Geschichte würde eher einen Zweiteiler tragen als eine Serienstaffel (…)“

Roboterjournalismus

Jetzt ist es wohl soweit. Bei der Nachrichtenagentur dpa werden die Texte nunmehr von Robotern verantwortet. Wie anders wäre ein Beitrag vom 16. Juni zu erklären, der in vielerlei Medien, etwa von Süddeutsche.de, augenscheinlich ungeprüft übernommen wurde? Dort heißt es unter anderem: „Das deutsche Fernsehen lebt von amerikanischen Serien, deren Qualität von peinlich bis exzellent reicht, aber eine deutsche Serie hat es noch nie ins gelobte Land des Fernsehens geschafft.“ Der Satz zielt auf „Deutschland 83“, eine RTL-Produktion, die – da haben die beteiligten PR-Strategen ganze Arbeit geleistet – bereits umfassend in den Feuilletons vertreten war und allerlei Rumoren veranlasste, ehe auch nur der erste Trailer über die Mattscheibe geflimmert ist.

Was an dieser Aussage falsch ist, verrät die „Medienkorrespondenz“ unter http://www.medienkorrespondenz.de/ansichten-sachen/artikel/fernsehserientexte-von-dpa-oder-wir-sind-dienbsproboter.html

Rezensionen. Revolutionen. Revisionen.

Einst Verfemtes wird nobilitiert: Neuere US-Serien in der deutschen Kulturkritik

Der Kanon ist bekannt. Wer in diesen Tagen im kulturjournalistischen Bereich tätig werden möchte, sollte sie kennen: „Die Sopranos“, „The Wire“, „Breaking Bad“, „House of Cards“. Keine dickleibigen Romane, sondern Fernsehserien. Noch dazu solche aus US-amerikanischer Produktion, Erzeugnisse also einer kapitalistischen Kulturindustrie. Diese und einige andere Titel sind als Kulturgut anerkannt, sie liefern Referenzsysteme und sind zitabel. Man darf als Rezensent mittlerweile sogar zeitgenössische Romane daran messen, ob sie in Sachen erzählerischer Finesse, epischer Breite und vor allem Gegenwartsbezug mit den genannten Serien, zu denen sich noch skandinavische Titel wie die Politserie „Borgen“ gesellen, mithalten können.

Als mit der Moderne noch gehadert wurde

Einzeltitel wie die Serien „Roots“ (1977) und insbesondere „Holocaust“ (1978) wurden seinerzeit ausnahmsweise auf den Kulturseiten der Intelligenzblätter diskutiert. So intensiv aber und umfänglich wie derzeit haben sich Kulturjournalisten in Deutschland noch nie mit den Fortsetzungsgeschichten des Fernsehens befasst.
Etwas anders verhielt es sich mit den Medien- beziehungsweise Fernsehseiten der Tageszeitungen, aber auch bei den dort verantwortlichen Redakteuren herrschten Vorbehalte – entsprechende Themenvorschläge stießen häufig auf herablassende, oft genug belustigte Ablehnung.
Im Rahmen der institutionalisierten Kritik war diese Abneigung besonders spürbar. 1995 bewegte sich die ARD mit ihrer Vorabendserie „Die Partner“ mal ganz auf der Höhe der Zeit: gestische, reportageartige Kamera wie bei „N.Y.P.D. Blue“, tolle Filmmusik von Barbara Dennerlein, Ironie, ambivalente Figuren und offene Erzählverläufe, passgenau besetzt mit Ann-Kathrin Kramer, Jan Josef Liefers, Ulrich Noethen und Heinrich Gieskes sowie sorgfältig ausgewählten Gaststars. Gründe genug, die Produktion für einen Grimme-Preis zumindest in Betracht zu ziehen. Doch in der zuständigen Sichtungskommission klappten beim Bandstart augenblicklich alle Visiere nach unten. Was heute als Tugend gilt, wurde damals naserümpfend als wirr und unverständlich abgelehnt.

Vorher „nur“ Fernsehen

Umso bemerkenswerter der Umschwung, der vor etwa vier Jahren einsetzte. Mancher Versuch, die vordem verfemte Form zu nobilitieren, wirkte geradezu rührend: „‚The Wire‘ ist eben nichts völlig anderes als die Romane und Erzählungen, mit denen ich sonst meine Tage und Nächte verbringe“, verteidigte sich Richard Kämmerlings 2010 in der „F.A.Z.“ gegen potenzielle Vorbehalte. (…)

Weiter geht es in der aktuellen Ausgabe der „Funkkorrespondenz“, Heft 43-44, 24. Oktober 2014, S. 9-16.

Netflix – Für weniger Geld mehr gucken?

Unter Kommentatoren, die sich im Internet über das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem ereifern und vor allem gegen das deutsche Gebühren- bzw. Beitragsmodell wettern, gilt der US-amerikanische Videostreaming-Dienst Netflix als Heilsbringer, dessen Markteintritt in Deutschland sehnlichst erwartet wird. Manche versteigen sich sogar zu der Forderung, das Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch das Netflix-Prinzip zu ersetzen. Das Trachten vieler Teilnehmer dieser Debatte richtet sich zugleich auf Serien-Erzählungen jener Art, die in den vergangenen drei Jahren viel Raum in hiesigen Feuilletons fand und natürlich auch von der Internet-Gemeinde begeistert aufgenommen und begleitet wurde – „Breaking Bad“, „The Wire“, „Game of Thrones“ etc.

Nun verbinden sich aber mit Netflix offenbar falsche Vorstellungen. Zwar beauftragt Netflix inzwischen selbst Produktionsfirmen mit der Herstellung exklusiver Serien und hat derzeit acht dieser Titel im Portfolio, doch ist das kommerzielle Unternehmen noch weit davon entfernt, ein vollwertiges, mit einem TV-Sender vergleichbares Programm bieten zu können …

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Das Unterschlagen von Informationen kann zur Lüge führen

Und weiter geht es mit dem Philosphieren über Fernsehserien bei aufgestellten Scheuklappen, nämlich mit unverbrüchlich starrem Blick auf „The Sopranos“, „The Wire“ und „Breaking Bad“. Aktuell meldet die NZZ: „Fernsehserien wie «The Sopranos» oder «The Wire» erkunden seit Ende der neunziger Jahre die Gesellschaft der USA.“ Könnte denn nicht zumindest eine Zeitung dieses Ranges mal jemanden an das Thema setzen, der auch die gesellschaftlichen Erkundungen von „Polizeirevier Hill Street“ (1981-1987), „Miami Vice“ (1984-1989), „Crime Story“ (1986-1988), „L.A. Law“ (1986-1994), „Wiseguy“ (1987-1990), aller Serien von David E. Kelley usw. usf. in seine Überlegungen einbezieht?