Der Korrektor: Die „neuen” Serien

Fernsehserien sind in Feuilleton und Wissenschaft zum Modethema geworden. Beim medienwissenschaftlichen Blick zurück auf Veröffentlichungen zum Thema aus den letzten zwanzig Jahren stößt man unweigerlich auf eine Fülle an Irrtümern, Missverständnissen, Fehlinterpretationen. Aus der eigenen publizistischen Praxis darf berichtet werden, dass manche Redaktionen sogar an falschen Aussagen festhalten, obwohl sie es besser wissen. Ein Beispiel ist die Behauptung, das Remake von „House of Cards“ sei die erste Eigenproduktion von Netflix gegeben. Tatsächlich hatte Netflix die Rechte an der Produktion angekauft, und das zunächst auch nur für den US-amerikanischen Markt. Leicht erkennbar daran, dass „House of Cards“ außerhalb der USA bei anderen Anbietern Premiere feierte. Die Logik dahinter: Netflix würde niemals die Erstauswertung einer derart teuren und prestigeträchtigen Produktion den Mitbewerbern überlassen.

Manche dieser Falschinformationen sind bereits fest verankert in der öffentlichen Meinung. Korrekturen sind angebracht, auch wenn sie vermutlich in der Weite des Webs versickern, ergo unbeachtet bleiben werden.

Exemplarisch für die Herangehensweise an das Sujet ist ein Text aus der „tageszeitung“ aus dem Jahr 2013, verfasst von Ines Kappert, die laut beigefügter Biografie in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft promovierte und die neben Feminismus, Männlichkeitsentwürfen, Syrien, Geflüchteten auch TV-Serien als Themenschwerpunkt angibt.

Der Text ist überschrieben mit »Immer schön unberechenbar bleiben«. Bereits die taz-typisch verwirrende Unterzeile »Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue Qualitätsserien.« lässt stutzen. Die »neuen Qualitätsserien« können doch früher gar nicht als »Trash« gegolten haben, denn wenn es sie damals schon gegeben hätte, wären sie nicht »neu«.

Es erhebt sich zudem die Frage, bei wem Fernsehserien als »Trash« galten, und wann das gewesen sein soll. Wird hier womöglich eine Zonengrenze gezogen zwischen elitären Milieus und kulturell minderbemitteltem Pöbel? Bei manchen Fundstücken kommt schon mal der Eindruck auf, dass bildungsbürgerlicher Hochmut die Feder führte.

Gelernte Medienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wie auch erfahrene Medienjournalisten und viele fernseherfahrene Zuschauer wissen, dass es ehedem schon vom Publikum angenommene hochwertige TV-Serien gab, desgleichen einen seit circa 1970 zügig voranschreitenden wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema.

DANN HAT ES BOOM GEMACHT

Zitat:»Es war ein langer Weg von den ›Waltons‹, den ›Hesselbachs‹, der ›Schwarzwaldklinik‹, von ›Dallas‹ und ›Dynasty‹ zu ›Homeland‹, ›Kommissarin Lund‹, ›Breaking Bad‹ oder ›Borgen‹. Aber seit rund zehn Jahren ist sie da, die neue Fernsehunterhaltung, und sie boomt weltweit. Auf einmal ist das Fernsehen wieder zu einem interessanten Medium geworden, zumindest für die NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern.«

Zaghaft sei’s gefragt: Kam denn diese »neue Fernsehunterhaltung« wie eine Epiphanie über uns? Fiel sie vom Himmel, wurde sie uns von den Göttern gesandt? Jedoch offenbar nur den »NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern«.

Folglich ist das Fernsehen für Lineargucker weiterhin uninteressant geblieben. In diesem Publikumssegment also »boomt« es demnach nicht. Im Schnitt zehn Millionen Zuschauer beim „Tatort“ schlagen nicht zu Buche. Die vier bis fünf Millionen, die regelmäßig dienstags die Serien im Ersten einschalten, kann man ignorieren.

Warum eigentlich beschränkten die Götter ihre Wohltaten auf dänische und US-amerikanische Serien? Gab es denn gar nichts in Großbritannien, Frankreich, Benelux, Österreich, Polen, Tschechei? Australien, Asien, Afrika? Waren „The Prisoner“, „Widows“, „The Singing Detective“, das Original von „House of Cards“, „Capital City“, „State of Play“ ohne Bedeutung?

Die Produzenten von „24“ sahen das anders und holten sich Rat von Lynda La Plante, der britischen Autorin von Qualitätsserien wie „Widows“, „Prime Suspect“ und „Trial & Retribution“, deren Stil in „24“ anklingt.

ZAHLENSPIELE

»Boom« ist ein relativer Begriff, was folgende Zahlen belegen. „Breaking Bad“ begann in den USA mit durchschnittlich 1,23 Millionen Zuschauer, steigerte sich mühsam, blieb aber noch in den Staffeln 4 und 5a unter drei Millionen Zuschauern. Erst einige Folgen, nicht alle, der sechsten Staffel erreichten die Sechs-Millionen-Marke.

„Mad Men“ fand im besten Fall 3,29 Millionen Zuschauer, der Durchschnitt lag deutlich darunter.

Demgegenüber haben wir klassisch strukturierte episodische Serien wie „The Mentalist“ – sie startete mit 14,9 Millionen Zuschauern, erreichte mit der sechsten Staffel rund neun Millionen Zuschauer. Der Pilot von „Person of Interest“ wurde von 13,33 Millionen Menschen eingeschaltet. Ende der ersten Staffel gesellten sich noch ein paar dazu, in der Summe waren es 13,47 Millionen. In der fünften Staffel wendete sich das Publikum ab, aber mit 6,51 Millionen Zuschauer beim Finale liegt die Serie immer noch besser im Rennen als „Breaking Bad“ und „Mad Men“.

„Navy CIS“ begann mit 11,84 Millionen Zuschauern, erreichte in der Spitze 21,34 Millionen und erzielt auch in der 19. Staffel (!) im Schnitt über zehn Millionen Zuschauer pro Folge.

AKADEMISCHE ERKENNTNIS: FAMILIE FISHER UNTERSCHEIDET SICH VON FAMILIE HESSELBACH

Zitat:»Die Blaupause für den massiven Qualitätsschub im Fernsehen lieferten die HBO-Produktionen ›Sopranos‹ (1999-2007), ›Six Feet Under – Gestorben wird immer‹ (2001-2005) und ›The Wire‹ (2002-2008). Diese drei US-Serien nutzten das Format der Fortsetzungsgeschichte auf eine bis dahin ungekannte Weise.

Um die Differenz plastisch zu machen, hilft ein Vergleich mit ›Dallas‹ (CBS 1978-1991). (…) Zwar altern die Hauptfiguren, aber sie lernen genauso wie alle anderen überhaupt nichts dazu. Und auch das Setting um sie herum verändert sich nur unwesentlich. Das gleiche gilt für Vorgänger wie die ›Hesselbachs‹ (1960-1967) oder ›The Waltons‹ (CBS 1971-1981).«

Wenn eine kleine Berichtigung erlaubt ist: Eine Serie mit dem Titel „Hesselbachs“ gibt es nicht. Im deutschen Fernsehen liefen „Die Firma Hesselbach“ und „Die Familie Hesselbach“, die Fortsetzung trug den Titel „Herr Hesselbach und …“. Und der gewählte Vergleich hilft eher wenig. Erinnert sei daran, dass sich beispielsweise bei „Six Feet Under“ das Setting ebenfalls »nur unwesentlich« änderte. Und der Lerneffekt ist trotz des Altersunterschieds der Produktionen bei den Figuren von „Six Feet Under“ und den Serien um die Familie Hesselbach so unterschiedlich nicht. Beispiel: In der dritten Staffel wird Karl Hesselbach in den Stadtrat gewählt, dort lernt er und mit ihm die Zuschauerschaft eine ganze Menge über Lokalpolitik.

Es ist auch nicht ganz ohne Bedeutung, dass die Episoden der deutschen Serie monatlich ausgestrahlt wurden, also einer ganz anderen Dramaturgie unterlagen als Titel mit wöchentlichem Turnus.

EINE FRAGE DER WAHRNEHMUNG

Zitat: In den»neuen Serien«geht es»(…) vor allem um ein Nachvollziehen der Veränderung und des differenzierten Wahrnehmens und Erlebens einer Situation durch sämtliche Beteiligte.«

War nach diesen Maßstäben nicht schon „Peyton Place“ im Jahr 1964 eine »neue Serie«? Wie verhält es sich mit der britischen „Coronation Street“? Mit „M*A*S*H“, „St. Elsewhere“, „Ausgerechnet Alaska“, „Party of Five“, Anwaltsserien wie „L.A. Law“ und „I’ll Fly Away“?

EIN FALL FÜR DIE NOTAUFNAHME

»(…) der Streit um die richtige Sichtweise findet auch im Inneren der Hauptfiguren statt.«

Da kommt Sorge auf. Hoffentlich tragen die Hauptfiguren keine schwerwiegenden inneren Verletzungen davon, wenn die streitenden Parteien derart wüten.

INNOVATION: SERIENFOLGEN DAUERN JETZT 50 MINUTEN

Zitat:»In der Regel dauert bei den neuen Serien eine Episode fünfzig Minuten und es gibt zehn bis zwölf Episoden pro Staffel. ›The Wire‹ brachte es auf ganze fünf Staffeln, die Agenten-Thriller-Serie ›Homeland‹ ist bislang bei der dritten angelangt und noch ist kein Ende in Sicht.«

Ob es die Autorin wohl überrascht, dass eine fünfzigminütige Laufzeit als Norm gilt bei Produktionen, die für die Ausstrahlung in werbefinanzierten Sendern vorgesehen sind? Inklusive Werbung passen sie dann in das übliche Stunden-Schema. Wenn die Zahl der Staffeln als Rekorde vermeldet werden sollen, so fällt das Erreichte im Vergleich eher dürftig aus. „Law and Order“ bringt es auf 21 Staffeln, „Grey’s Anatomy“ geht ebenfalls in die 21. Runde, „Emergency Room“ endete nach der 15. Staffel. „Coronation Street“ läuft seit 1960 im britischen Fernsehen.

KAM DIE ERLEUCHTUNG WIRKLICH ERST SO SPÄT?

Zitat: »›Borgen‹ leuchtet ähnlich wie ›The Wire‹ und auch ›Homeland‹ das Zusammenspiel von Politik, Presse und Familie aus (…).«

In dem Punkt darf man behutsam ergänzen: „Borgen“ war kein Novum. Die dänische Serie hatte einen unmittelbaren Vorläufer in der niederländischen Produktion „Mevrouw Minister“, die auf Festivals und Fernsehmärkten gezeigt wurde und den dänischen Redakteuren kaum entgangen sein dürfte. Politische Themen in engerem Sinne verhandelten viele andere Serien, darunter „Tanner ʼ88“ (1988; Gewinner der goldenen Medaille in der Kategorie Best Television Series beim Cannes Television Festival) von Garry Trudeau und Robert Altman, „The West Wing“ (1999-2006), „State of Play“ (2003), „Commander in Chief“ (2005-2006) mit Geena Davis in der Rolle der ersten weiblichen Präsidentin der USA und nicht zuletzt „That’s My Bush!“ (2001) vom „South Park“-Team Trey Parker und Matt Stone. Im weiteren Sinne gehören auch die britischen Polit-Sitcoms „Yes, Minister“/„Yes, Primeminister“ (produziert 1979, gesendet 1980-1988, neu aufgelegt 2013) und „The Thick of It“ (2005, 2007 und 2012) in diesen Zusammenhang. Keinesfalls ausblenden darf man das britische Original von „House of Cards“ (1990) und dessen Folgeserien „To Play the King“ (1993) und „The Final Cut“ (1995), die zusammen eine zwölfteilige Trilogie ergeben.

TELEGENE ÜBERBEVÖLKERUNG

Zitat: »Im Laufe einer Serie bekommen es die ZuschauerInnen mit einer ganzen Heerschar von Charakteren zu tun.«

Die obige Beobachtung scheint nicht vollends durchdacht, denn sie gilt für nahezu jede Daytime- und Evening-Soap. Zum Beispiel für „Dallas“ und „Dynasty“, die ja oben auf einen Streich diskrediert wurden. Die bereits erwähnte britische Serie „Coronation Street“ erzählt seit 1960 von den Schicksalen der Bewohner einer ganzen Straße. Da kommt einiges an Personal zusammen.

BEFREIUNG AUS DEN KLAUEN DES PROGRAMMSCHEMAS

Zitat:»Möglich ist diese Komplexität nur aufgrund der DVD beziehungsweise der Streams auf bestimmten Webseiten. Die neuen Speichermedien und der Serienboom gehören zusammen. (…) Der Einzelne muss sich nicht mehr nach Sendeterminen richten, sondern kann die Serie sehen, wann immer es ihm passt.«

Jetzt verwundert aber, dass alle als Positivbeispiele aufgezählten Serie ihre Premieren im linearen Fernsehen hatten. „Die Sopranos“ starteten 1999, da war der Serienkonsum via World Wide Web noch nicht sehr weit gediehen. Zum Vergleich: Youtube wurde erst 2005 gegründet.

Hingegen erlaubte schon die Videokassette, eine Serie zu sehen, wann immer es dem Zuschauer passte. Was, wie die Älteren unter uns wissen, auch genau so praktiziert wurde.

Zitat: »Aber was ist mit der Ästhetik, was passiert auf der visuellen Ebene? Auch hier haben die neuen Serien dazugelernt, und zwar vor allem vom Kino. Die herkömmliche TV-Serie wird im Studio gedreht. Billiger ist Fernsehen nicht zu haben: Kein Wechsel der Drehorte und womöglich unpassendes Wetter bringen den Spielplan durcheinander (…). (…) Stattdessen sorgen eine überschaubare Anzahl von SchauspielerInnen mit schnellen pointenreichen Dialogen auf dem immergleichen Sofa oder am immergleichen Küchentisch für Unterhaltung.«

Schon grammatisch eine seltsame Aussage. Serien sind abstrakte Dinge, die können nichts dazulernen.

Wurden denn die »schnellen pointenreichen Dialoge« im Zeitalter der »neuen Serien« abgeschafft? Es gab Zeiten, da wurde genau diese Qualität seitens der Kritik gefordert. Man kann es den Leuten aber auch nicht recht machen …

Es wird das Selbstbewusstsein der Autorin hoffentlich nicht über die Maßen erschüttern, wenn sie erfährt, dass schon Episoden der deutschen Serie „Ihre Nachbarn heute Abend – die Familie Schölermann“ an Originalschauplätzen, zum Beispiel auf einem Passagierschiff, gedreht wurden. Auch die Hesselbachs gingen gelegentlich vor die Tür. Die Vorabendserie „Goldene Zeiten – Bittere Zeiten“ entstand in Baden-Baden, Paris, Wien, Marseille, Prag, „Sergeant Berry“ auf Mallorca. Für „Diamanten sind gefährlich“ und „Diamantendetektiv Dick Donald“ reisten die Hauptdarsteller nach Südafrika, für „Die Journalistin“ unter anderem an den Nürburgring, nach Amsterdam und nach Italien. Eine Episode spielt auf hoher See. Das ZDF ließ sich nicht lumpen und die Vorabendserie „I.O.B. – Spezialauftrag“ in Finnland, Belgien, Spanien drehen. Die ARD schickte die Heldinnen von „Okay S.I.R.“ buchstäblich in die Wüste, nach Rabat und Marrakesch, nach Marseille, Rom, Wien, Budapest, St. Mortiz. Zwar herausgepickt, aber keine Sonderfälle. Die Liste ließe sich fortsetzen.

EIN PAAR SHOTS ZUR ORIENTIERUNG

Zitat: »Die vernachlässigte Außenwelt wird nur über ›Orientierungsshots‹ eingeblendet – das Panorama von New York, die Ranch, die Lindenstraße. Alle diese Elemente finden sich auch in den neuen Qualitätsserien. Sie werden nun aber flankiert von cineastischen Elementen: So gibt es Außendrehs und auch aufwendigere Kamerafahrten.«

Nur ungern raubt man den jungen Leuten ihre Illusionen, aber Innendrehs sind eher die Regel als die Ausnahme. Seit je werden Kinofilme nach Möglichkeit im Studio gedreht. Das sind oder waren diese großen Gebäude auf den Geländen von Paramount, MGM, Warner Brothers, Babelsberg, Bavaria, Elstree, Pinewood mit der berühmten 007-Stage … Der Stab des Klassikers „Casablanca“ war nie in Casablanca, jedenfalls nicht im Rahmen der Dreharbeiten. Selbst der Flughafen wurde im Atelier nachgebaut. Alfred Hitchcock zog stets Dreharbeiten im Studio denen unter freiem Himmel vor. Er hat trotzdem ein paar anständige Filme zustande gebracht.

Auch er nutzte »Orientierungsshots“, in der Fachsprache Establishing Shots und schrieb dazu: »Washington ist ein Blick auf das Kapitol, New York ein Wolkenkratzer. Die Verwendung einer unbekannten Ansicht würde das Publikum verwirren …«

Establishing Shots gehören schlicht zur allgemeinen Filmsprache. Sie entstammen den eigenen Archiven oder werden von Agenturen bezogen.

WO WAREN DIE GUTEN SCHAUSPIELER ALL DIE JAHRE?

Zitat: »Im Post-TV hat das Fernsehen die Schauspielkunst wieder entdeckt. In fast allen neuen Serien finden sich außergewöhnliche DarstellerInnen, und zwar in Haupt- und Nebenrollen.«

Dann müssen wir davon ausgehen, dass Schauspieler und Schauspielerinnen wie Steve McQueen, Clint Eastwood, John Cassavetes, Richard Roundtree, Mia Farrow, Ryan O’Neal, Fred Astaire, Nick Nolte, David Niven, Charles Boyer, James Earl Jones, Alfre Woodard, Sally Field, George Clooney, Burt Lancaster, Robert Mitchum, Meryl Streep, Geena Davis, André Braugher, Edie Falco, Isabella Hofmann, Denzel Washington, Ned Beatty, Glenn Close, Sir Ian McKellen, Anthony Hopkins, Al Pacino wohl zu den minderbegabten Knallchargen zählen. Sie alle und viele weitere renommierte und preisgekrönte Kolleginnen und Kollegen sah man in dem, was die Autorin wohl als „Prä-TV“ bezeichnen würde.

Aber Filmauftritte sind eine völlig unnötige Reverenz. „St. Elsewhere“, „Hill Street Blues“, „Emergency Room“, „Homicide – Life on the Street“, „American Gothic“, „Profit“, „The Shield“ – lang ist die Liste der Serientitel, in denen man extraordinäre Leistungen von Schauspielerinnen und Schauspielern bewundern kann, die primär im Fernsehen gearbeitet haben und in ihrem Metier höchste Anerkennung genießen.

Werber-Fernsehen

Spritzige Dialoge, skurrile Typen – „The Crazy Ones” zeigt den US-Serienautor David E. Kelley in Bestform. Und doch anders …

Am 3. März 1991 wurde der Afroamerikaner Rodney King nach einer Geschwindigkeitsübertretung von mehreren Polizisten brutal geschlagen. Ein Zeuge filmte den Vorfall. Bereits zwei Monate später war der Skandal Thema in der TV-Serie „L.A. Law”. Nicht untypisch für die Autoren dieser Anwaltsgeschichten, die neben allerlei Skurrilitäten immer wieder auch aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse und Ereignisse in die Handlung woben.
„L.A. Law” stammte von der ehemaligen Staatsanwältin Terry Louise Fisher und dem Autor und Produzenten Steven Bochco. Bochco hatte gemeinsam mit Michael Kozoll TV-Geschichte geschrieben, als er 1981 die Polizeiserie „Hill Street Blues” auf den Bildschirm brachte und damit die Gattung auf ein bis dahin kaum gekanntes Niveau hob. Mit „Hill Street Blues” begann, was der Medienwissenschaftler Robert J. Thompson 1996 die „zweite goldene Ära des Fernsehens” nennen sollte: eine Evolution des seriellen Erzählens, ohne die die so übertrieben gefeierte „dritte goldene Ära” nicht möglich gewesen wäre.
Auch „L.A. Law”, seit 1986 in Produktion, zählt zu dieser Generation von Qualitätsserien. Dafür war nicht zuletzt David E. Kelley verantwortlich, ursprünglich Rechtsanwalt, als Autor ein Seiteneinsteiger, ab der vierten Staffel verantwortlicher Produzent von „L.A. Law”. Damals entwickelte Kelley seine besondere Handschrift: exzentrische Charaktere, absonderliche Stories, schnelle und gewitzte Dialoge, dabei immer wieder bewusst zeitkritisch. Über die Jahre und insbesondere zu Zeiten George W. Bushs ging Kelley über die begleitende Reflektion noch hinaus; Kelleys Serie „Boston Legal” wurde so zeitweise zur Gegenstimme jener populistischen Radau-Shows, die wie Informationssendungen präsentiert wurden, aber weit entfernt waren von jeder journalistischen Ethik.
„L.A. Law” und namentlich David E. Kelley übten erheblichen Einfluss aus. Serien wie „Judging Amy”, „Family Law”, „Eli Stone” zeugen davon. Inzwischen aber ist die unmittelbare Darstellung konkreter gesellschaftlicher Realitäten rar geworden. Auch in Kelleys Büchern. „Harry’s Law” (2011-2012) mit Kathy Bates lebte von zwischenmenschlichen Konflikten und dem besonderen Milieu, einem Armenviertel. In seiner letztjährigen Serie „Monday Mornings”, geschrieben und produziert mit dem Star-Neurochirurgen Sanjay Gupta, widmete er sich bar jeder Romantisierung dem Klinikalltag. Auch ein Kommentar zur Zeit, aber losgelöst von konkreten Ereignissen. Dennoch ein Misserfolg.
Bei ProSieben startet in dieser Woche Kelleys jüngste Produktion, die nach 22 Episoden eingestellte Sitcom „The Crazy Ones”. Wer bei dem Titel eine Anspielung auf „Mad Men” wittert, liegt nicht falsch. „The Crazy Ones” spielt ebenfalls in der Werbebranche, jedoch in der Gegenwart, inspiriert von den Erlebnissen des Chicagoer Werbeschaffenden John R. Montgomery, der als Koproduzent fungierte.
Kelleys Stärke, die anspielungsreichen pointierten Dialoge, kommt hier vollends zur Geltung. In Hauptdarsteller Robin Williams und dem jüngeren James Wolk sowie Ex-„Buffy“-Darstellerin Sarah Michelle Gellar hat Kelley zwei ideale Interpreten gefunden. Wobei Williams seit seinem Durchbruch mit der Sitcom „Mork vom Ork” bekannt und berüchtigt ist dafür, dass er vom Skript abweicht und zügellos improvisiert, parodiert, imitiert. Schon damals ließen die Produzenten ihn gewähren – die Drehbücher enthielten an passenden Stellen die knappe Regieanweisung: „Hier kann Mork loslegen.“ Auch nach allerlei persönlichen Krisen hat Williams seine Spontaneität und Geistesgegenwart nicht verloren. „Crazy One“ – das passt auf den Schauspieler. Die Regisseure machen das beste draus und zeigen in Outtakes, wie Williams’ Kollegen vor Lachen aus der Rolle fallen. Robin Williams hat zwar seit „Mork vom Ork“ keine langfristige Serienhauptrolle mehr übernommen, ist aber dem Fernsehen treu geblieben. Er spielte in Mehrteilern und Gastrollen, darunter auch ernste Parts, unter anderem in einer höchst beeindruckenden Episode der innovativen Polizeiserie „Homicide – Life on the Street“, in der er hilflos, die Kinder im Schlepptau, von einem Ansprechpartner zum nächsten irrt, nachdem seine Frau durch einen tragischen Zufall Opfer eines Feuergefechts wurde.
„The Crazy Ones“ markiert Williams‘ Rückkehr zur TV-Sitcom. Diese ist ausnehmend frech und witzig. Aber bestenfalls latent politisch. Ein Zeichen der Zeit: TV-Serien gehobener Qualität finden derzeit viel Aufmerksamkeit; neue technische Möglichkeiten, die Vermehrung der Anbieter und eine bessere finanzielle Ausstattung haben die Herstellung verändert; neue Vermarktungswege wurden eröffnet. Die Kundschaft ist heute international, Feinheiten US-amerikanischer Innenpolitik stören da nur. Bevorzugt wird deshalb das große Drama, der späteren lukrativen Wiederholungen wegen möglichst ohne direkte aktuelle Bezüge.
Selbst eine im politischen Milieu Washingtons angesiedelte Serie wie „House of Cards” ist als allgemeine Parabel angelegt. Die einschlägigen politischen Vorhaben, die Francis Underwood (Kevin Spacey) vorantreibt oder sabotiert, sind austauschbare dramaturgische Mittel.
In „House of Cards” erscheint der gesamte Politbetrieb vollends korrupt, als vom gemeinen Volk weit entfernter, nicht mehr zu beeinflussender Kosmos mit eigenen Regeln. Demgegenüber sprach aus den Serien nach Art David E. Kelleys ein optimistisches Grundvertrauen auf die menschliche Vernunft und, trotz häufiger Kritik, auch auf das US-amerikanische Rechtssystem. Die Juristen aus „Picket Fences”, „Ally McBeal”, „Boston Legal”, „The Practice” waren schrullige Sonderlinge oder windige Winkeladvokaten. Und doch zeigten sie Möglichkeiten auf. Minderprivilegierte und Diskriminierte wurden ermutigt, Unrecht nicht passiv hinzunehmen, sondern die gegebenen rechtlichen Chancen auszuschöpfen.
Francis Underwood würde über solche Ideale nur hämisch lachen.

„The Crazy Ones”, mittwochs, 21.15 Uhr, ProSieben

Das Unterschlagen von Informationen kann zur Lüge führen

Und weiter geht es mit dem Philosphieren über Fernsehserien bei aufgestellten Scheuklappen, nämlich mit unverbrüchlich starrem Blick auf „The Sopranos“, „The Wire“ und „Breaking Bad“. Aktuell meldet die NZZ: „Fernsehserien wie «The Sopranos» oder «The Wire» erkunden seit Ende der neunziger Jahre die Gesellschaft der USA.“ Könnte denn nicht zumindest eine Zeitung dieses Ranges mal jemanden an das Thema setzen, der auch die gesellschaftlichen Erkundungen von „Polizeirevier Hill Street“ (1981-1987), „Miami Vice“ (1984-1989), „Crime Story“ (1986-1988), „L.A. Law“ (1986-1994), „Wiseguy“ (1987-1990), aller Serien von David E. Kelley usw. usf. in seine Überlegungen einbezieht?

Harry ist eine Sie

Sommerpause ist, wenn die Medienseiten der Tageszeitungen nicht mehr über das aktuelle Programmgeschehen berichten … Schade um den Spruch, jedoch: Er gildet nicht. Weil die Tageszeitungen nämlich rund ums Jahr immer wieder interessante Programmbeiträge übersehen. Am heutigen Donnerstag (5.7.) hätte unbedingt „Harry’s Law“ (Sat.1, 23.05 Uhr) einen Hinweis verdient, handelt es sich doch um die jüngste Serie des nicht genug zu rühmenden David E. Kelley, dem wir die besten Staffeln von „L.A. Law“ sowie Eigenkreationen wie „Picket Fences“, „Ally McBeal“, „Boston Public“ und „Boston Legal“ verdanken. Ein ganz Großer des schreibenden Gewerbes meldet sich zurück, und wenn das nicht schon Grund genug wäre zum Einschalten, Kathy Bates in der Titelrolle ist es auf jeden Fall.

Eine kurze Geschichte der epischen Fernseherzählung

Deutsche Rezensenten sind schwer auf „Wire“, aber nicht auf Draht

In der“ taz“ beginnt eine Besprechung der neuen ZDF-Serie „Die letzte Spur“ mit der folgenden Passage:

„Fernsehen ist das neue Kino, amerikanische TV-Serien haben das horizontale, längerfristige Erzählen neu definiert, die großen Romane der Gegenwart heißen „The Sopranos“ und „The Wire“. Das wird derzeit ständig geschrieben. Es stimmt ja auch.

Aber es sind nicht allein die Amerikaner – die Deutschen waren im horizontalen Krimi-Gewerbe zwischenzeitlich auf Augenhöhe, annähernd, nicht ganz. Mit Dominik Grafs und Rolf Basedows „Im Angesicht des Verbrechens“ (ARD) und Orkun Erteners „KDD – Kriminaldauerdienst“ (ZDF). Was in New Jersey und Baltimore geht, geht auch in Berlin.“

Da wurde mit praller Stilblüte, aber recht bündig zusammengeführt, was dem einfachen fernsehenden Volk in den letzten Monaten an schierem Unfug aufgetischt wurde, vom großsprecherischen, aber rotzjungendummen Bescheidwissertonfall – „Fernsehen ist das neue Kino“ – bis hin zu der verblasenen Thesenstellung. Da ist plötzlich alles neu und es scheint eine Revolution im Gange; die „F.A.Z.„, die es eigentlich besser wissen sollte, glaubte entdeckt zu haben, mit den besagten neueren US-Serien seien die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts ins Fernsehen eingegangen. Auch bei den klugen Köpfen aus Frankfurt wurden die Backen mächtig geplustert: „Der Roman der Gegenwart ist eine DVD-Box“. Heiliger Charles Wilp, was für ein Satz. (Zur Ehrenrettung: Hier immerhin gab der Schriftsteller Martin Kluger, nomen es omen, ein paar kluge Worte zu Protokoll. Bitte insbesondere zu beachten: „Doch damals hat das Feuilleton geschwiegen, das war pfui.“ Dieses „Damals“ ist noch nicht gar so lange her. Kein Wunder also, dass die Herrschaften sich nicht auskennen; atemraubend, fast schon niederschmetternd aber der mit schierer Unverschämtheit gepaarte Furor und die Emphase, mit denen sie diese Defizite wettzumachen versuchen.)

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Der Wochenspiegel 14.10

Bei Kabel 1 wandern zwei Qualitätsserien  immer tiefer ins Nachtprogramm. Betroffen ist zum einen „Hack – Die Straßen von Philadelphia“ (samstags), eine mit den Charaktermimen David Morse und André Braugher besetzte Serie aus der Feder von David Koepp. Koepp zeichnet als Szenarist für Filme wie „Carlito’s Way“, „Panic Room“ und „Spider Man“ verantwortlich, legte „Hack“ jedoch weit weniger action-lastig an als seine Kinoarbeiten. Als Hauptfigur dient ihm ein früherer Kriminalbeamter, der sich im Dienst an Drogengeld vergriffen hat und nun als Taxifahrer arbeitet. Dabei stößt er immer wieder auf Klienten, die seiner Hilfe bedürfen. Zugleich hadert er mit seinem Entschluss, seinen gleich schuldigen Partner gedeckt zu haben. Während der vermeintlich unbescholten weiterhin im Beruf bleiben konnte und ein harmonisches Eheleben führt, ist Hacks Familie zerbrochen, das Verhältnis zur Ex-Frau und zum kleinen Sohn problembelastet. Ein Grübler, Suchender, Sünder als Protagonist – so eine Serie hat es natürlich nicht leicht zwischen selbstgerechten Egomanen wie Horatio Caine und seinesgleichen.

Auch „Practice – Die Anwälte“ (freitags) fand sich nicht mehr auf dem ausgedruckten Programmplatz. David E. Kelley, der Meister unter den Serienautoren und –produzenten, schuf mit dieser Anwaltsserie ursprünglich einen düsteren Gegenentwurf zu seinen heiteren Serien wie „Ally McBeal“. Bei der nunmehr von Kabel 1 gezeigten achten Staffel änderte sich der Tonfall; sie wurde mit Eintritt der Figur Alan Shore (James Spader) und Gaststars wie Sharon Stone peu á peu zum Vorspiel für „Boston Legal“, das dann wieder die von Kelley gewohnten spritzigen Wortgefechte, aktuellen politischen Bezüge, aberwitzigen Handlungsideen aufwies. Eins haben alle Kelley-Produktionen gemein: ein Herz für Außenseiter. Kelley machte das Tourette-Syndrom bereits bei „L.A. Law“ zum Thema, zu einer Zeit also, als viele Schlauberger noch nicht einmal wussten, wie man das schreibt. So wertvoll kann fiktionales Fernsehen sein.

RTL scheint gerade dem an sich recht schönen Show-Format „Let’s Dance“ den Garaus bereiten wollen. Das Original „Strictly Come Dancing“ stammt aus Großbritannien und gewinnt seinen Reiz aus einer gewissen Noblesse, was Kulisse, Kostüme und Auftreten aller Beteiligten anbelangt. Ursprünglich schien man bei RTL das Erfolgsrezept – das Format wurde in viele Länder verkauft – verstanden zu haben. Doch nun wurde mit Daniel Hartwich ein Komoderator berufen, der scheint’s glaubt, in die Fußstapfen Oliver Pochers treten zu müssen. Pocher hatte 2005 bei ProSieben durch eine einmalige Billigvariante dieser Show mit dem Titel „Das große ProSieben-Tanzturnier“ geführt und dabei ähnlich dümmlich-zotig agiert wie nunmehr auch Hartwich. Unklugerweise lassen sich andere Beteiligte wie der Juror Joachim „the man you love to hate“ Llambi auf dieses Niveau herunterziehen. Nichts gegen Anzüglichkeiten, aber gepflegt müssen sie sein. Und: Gegenstand dieser Tanz-Show ist es, Bewegungen und Bewegungsabläufe zu bewerten. Der Zuschauer kann daran kaum teilhaben, wenn die Tanzeinlagen in winzige Einheiten zerlegt werden. Hier sind keine Videoclip-Schnittfrequenzen im Schnellfeuerstil, sondern lange Einstellungen gefragt. Der RTL-Unterhaltungschef sollte dringend einige Mitwirkende zur Dienstbesprechung laden.

Immer noch sensationell: „Battlestar Galactica“, mittwochs im Programm von RTL II. Diese Neuauflage der klassischen Space-Opera aus den 70ern überragt das Original bei weitem. Hier lernt man mindestens so viel über Politik, Philosophie und Religion wie bei „Scobel“ und im „ZDF-nachtstudio“, nur wird der Stoff ungleich attraktiver und spannender aufbereitet. Ganz großes Fernsehen.

Es ist ja schön, dass das ZDF mit der Serie „Klimawechsel“ langsam wieder zu einem frecheren Tonfall findet, der dort einstens in Reihen wie „Express“ und „Notizen aus der Provinz“ durchaus ein Zuhause hatte. Und doch handelt es sich um reinstes Oberschichtenfernsehen über bevorteilte Menschen mit Luxusproblemen. Erwartbar, dass eine Kritikerkaste daran Gefallen findet, die sich gegenüber Minderprivilegierten bestenfalls paternalistisch, schlimmstenfalls grob abwertend äußert. Seltsam auch, dass nirgendwo die grässlich sterile Bildästhetik dieser Serie moniert wurde. Als der SFB seinerzeit ein paar „Tatort“-Folgen in diesem Stil drehen ließ, hagelte es Schimpfe von allen Seiten.