Nebelkerzen in der „Tagesschau“

In den letzten Jahren sind Angehörige der unentschlossenen Generationen in den Journalismus eingewandert. Rupert Wiederwald beispielsweise berichtete dieser Tage in der „Tagesschau“: „Auch hier fahren nicht wirklich viele Züge.“
Warum diese schwachmatische Relativierung? Fahren nun Züge oder fahren sie nicht? (Sie fuhren nicht.)
Noch blöder sind Sätze wie „Die Kanzlerin konnte sich nicht wirklich durchsetzen.“
In so gut wie allen Fällen ist die Phrase „nicht wirklich“ eine völlig überflüssige Beigabe, ein geziertes, modisches Aufblasen des jeweiligen Wortlauts. Sie wirkt wie die Vermeidung einer klaren Aussage, wie die Vernebelung des eigentlichen Sachverhalts.
Bevor die Floskel von denkfaulen Synchronautoren als Übersetzung des angelsächsischen „not really“ herangezogen wurde, hatte sie übrigens eine ganz andere Bedeutung. Sie stand für gespenstische, märchenhafte, traumhafte, wirklichkeitsfremde, also „unwirkliche“ Wahrnehmungen. Um Einschränkungen auszudrücken, benutzte man Wendungen mit eindeutigerem Wortstamm wie „nur bedingt“, „nur begrenzt“, „nicht unbegrenzt“.

Schlecht genährte Gesellschaftsanalyse

Es zeigt sich abermals, dass die Beurteilung programmlicher Angebote des Fernsehens insofern doch besser Fachkräften überlassen bleiben sollte, als besagte Phänomene, wie dieser Artikel aus der „Frankfurter Rundschau“ exemplarisch belegt, des öfteren und neuerdings, so jedenfalls die persönliche Empfindung, immer häufiger zur Analyse gesellschaftspolitischer Vorgänge herangezogen werden. Und da kann es dann schon mal zu akuten Fehlsch(l)üssen kommen.

Die Autorin Elke Brüns etwa zieht rührig – und allerlei Unzusammengehöriges verrührend – gewisse Erscheinungen des Fernsehens zur Beweisführung heran, deren Wesen sie mutmaßlich nur über die einschlägige Berichterstattung vermittelt bekommen hat. Zum einen glaubt sie zu wissen, dass „Harald Schmidt den Begriff ‚Unterschichten-Fernsehen‘ und damit die Idee einer mediale [sic!] Klassengesellschaft populär gemacht“ hat. Ähnliches wurde einem ja schon häufiger aufgetischt und dabei zumeist vergessen, dass Harald Schmidt den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ ironisch gebrauchte – an Manuel Andrack gerichtet fiel der Satz: „… als wir noch Unterschichtenfernsehen gemacht haben“. Der Gag, den man wie’s scheint erklären muss: Die zeitweilig von Feuilletonisten in aufdringlichster Manier vereinnahmte „Harald Schmidt Show“ war demnach „Unterschichtenfernsehen“. Womit natürlich die Snobs unter den Freunden dieser Show einen kräftigen Nasenstüber bekamen. Nur haben es viele gar nicht gemerkt.

Auch der zweite Ausflug von Elke Brün ins fernsehkritische Ressort zielt daneben. Aus der zwar nicht einsilbigen, aber doch sehr knappen Meldung, der NDR ziehe die Produktion eines Scripted-Reality-Formats in Betracht, wurde und wird auch hier wieder voreilig geschlossen, der öffentlich-rechtliche Sender wolle es den kommerziellen Anstalten und ihren nachmittäglichen Schräglagen-Programmen nachtun. „Scripted Reality“ ist aber zunächst mal eine Genrebezeichnung. Und wie bei jedem anderen Genre kommt es darauf an, was man daraus macht. So weit aber ist die Berichterstattung bislang gar nicht vorgedrungen. Die vermeintliche Skandalmeldung war den meisten schon Inhalt genug.

Davon mal ganz abgesehen: So ziemlich jeder Dokumentarfilm basiert darauf, Realität in einem Skript zu erfassen. Auch das Subgenre Doku-Soap wird mittlerweile per se verächtlich gemacht. Vor Jahren bekamen Doku-Soaps wie „Die Fussbroichs“ und „Abnehmen in Essen“ (ab 28.12. in der Wiederholung auf Einsplus, Staffel 2 auch auf DVD erhältlich) noch Grimme-Preise. Und das mit Recht.

Derweil zeigte gleich die nächste Ausgabe der „Rundschau“, wie sehr es  heutigentags an Fachwissen hapert: Da wurde auf der Medienseite behauptet, die „Tagesschau“ habe „einst mit nur einer Sendung am Tag“ begonnen. Selbst bis zu Wikipedia, das sich ansonsten nicht unbedingt als Quelle empfiehlt, hat sich herumgesprochen: Ursprünglich gab es nur alle zwei Tage eine neue Ausgabe. Und an den Abenden dazwischen eine Wiederholung.

Geruhsame Zeiten waren das …