Nebelkerzen in der „Tagesschau“

In den letzten Jahren sind Angehörige der unentschlossenen Generationen in den Journalismus eingewandert. Rupert Wiederwald beispielsweise berichtete dieser Tage in der „Tagesschau“: „Auch hier fahren nicht wirklich viele Züge.“
Warum diese schwachmatische Relativierung? Fahren nun Züge oder fahren sie nicht? (Sie fuhren nicht.)
Noch blöder sind Sätze wie „Die Kanzlerin konnte sich nicht wirklich durchsetzen.“
In so gut wie allen Fällen ist die Phrase „nicht wirklich“ eine völlig überflüssige Beigabe, ein geziertes, modisches Aufblasen des jeweiligen Wortlauts. Sie wirkt wie die Vermeidung einer klaren Aussage, wie die Vernebelung des eigentlichen Sachverhalts.
Bevor die Floskel von denkfaulen Synchronautoren als Übersetzung des angelsächsischen „not really“ herangezogen wurde, hatte sie übrigens eine ganz andere Bedeutung. Sie stand für gespenstische, märchenhafte, traumhafte, wirklichkeitsfremde, also „unwirkliche“ Wahrnehmungen. Um Einschränkungen auszudrücken, benutzte man Wendungen mit eindeutigerem Wortstamm wie „nur bedingt“, „nur begrenzt“, „nicht unbegrenzt“.

Wenn „Der Spiegel” ins Schwärmen gerät

Mit dieser Überschrift möchte „Der Spiegel” Abonnenten locken: „Wie der »Game of Thrones«-Schöpfer jetzt den »Schwarm« verfilmt”. Gefolgt von der Einleitung: „Frank Doelger ist einer der mächtigen Strippenzieher des US-Fernsehens. Nach »Game of Thrones« inszeniert er nun den Klimawandel-Bestseller »Der Schwarm« als Visual-Effects-Spektakel – die teuerste deutsche Serie aller Zeiten.” Blöd daran: Frank Doelger ist nicht der Schöpfer von „Game of Thrones”, sondern war dort einer der Produktionsleiter. Seine Vita bei „Variety” gibt an: „Executive Producer non-Writing”.
Er führte bei „Der Schwarm” auch nicht Regie, wie das Verb „inszeniert” suggeriert.
Ebenso wenig ist Doelger „einer der mächtigen Strippenzieher des US-Fernsehens”. Vielmehr war er Teilhaber der Londoner Produktionsfirma Rainmark Films. Mittlerweile ist er in Berlin tätig, als Produktionschef („creative director”) von Intaglio Films, einem Joint Venture zwischen Beta Film und ZDF Studios. Ist doch für sich sehr interessant und eine Story wert. Warum muss man da noch Hintergründe erfinden?

Widersprüche aus Prinzip?

Seit einiger Zeit scheint es in der journalistischen Praxis Usus geworden zu sein, Überschriften zu formulieren, die genau das Gegenteil dessen aussagen, was berichtet wird. Ein aktuelles Beispiel stammt von msn.com: „Richter verlangt vom Repräsentantenhausausschuss die Herausgabe von Dokumenten, die zeigen, dass Trump seine Betrugstheorien aufgebauscht hat”.

Im zugehörigen Beitrag aber heißt es korrekterweise: „Bundesrichter David Carter hat den Anwalt John Eastman, eine Schlüsselfigur bei den Versuchen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, die Wahlergebnisse für 2020 anzufechten, angewiesen, dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses, der den Aufstand vom 6. Januar untersuchte, rund 30 Dokumente auszuhändigen, die beweisen würden, dass der Tycoon wusste, dass seine Behauptungen unbegründet waren.”

So etwas kann natürlich mal versehentlich passieren, wer wäre frei von Fehlern. Wenn man aber als Autor, wie dem Verfasser (nicht bei msn.com) mehrfach widerfahren, auf solche Irreführungen aufmerksam macht und der zuständige Redakteur auf dem Wortlaut der Überschrift beharrt, auf die sachliche Kritik sogar zornig reagiert, dann ist das doch eine etwas seltsame Auffassung journalistischer Tätigkeit.

Reizwortjournalismus – Wie die Suchmaschinenoptimierung die Berichterstattung korrumpiert

Es braucht keine gezielte Suche, um zu erkennen, dass der Streaming-Anbieter Netflix in der Medienberichterstattung eine Vorzugsbehandlung erfährt. Auf der Webseite tvspielfilm.de findet man gleich neben den „TV-Tipps des Tages“ den Anreißer zu dem Beitrag „Diese Netflix-Serien werden 2022 abgesetzt“. Scrollt man ein wenig, gibt es nochmals die Möglichkeit, zu diesem Text zu wechseln. Direkt daneben: „Netflix setzt nächste Serie ab“. Und darunter: „Die besten Netflix-Serien 2022“. Nochmals einige Klicks tiefer: „Die besten Netflix-Filme“. Unter der Rubrik „Streaming- und Serien-News“ in fast voller Seitenbreite: „Neu bei Netflix im März 2022“. Kein anderer Anbieter dieser Sparte wird bei tvspielfilm.de in ähnlichem Umfang berücksichtigt.

Kein Einzelfall.

Lesen Sie weiter in der aktuellen Ausgabe des „Medium Magazins”.

Streaming-Hits unter der Lupe

Die Berichterstattung über Serienproduktionen in der Streaming-Sparte gerät bisweilen ein wenig disproportional. Man liest zum Beispiel bei kino.de: „Netflix fährt in den letzten Monaten einen Streaming-Rekord nach dem anderen ein. Mit der französischen Serie ‚Lupin‘ ist Netflix jetzt der nächste große Hit gelungen, der sogar die Kostümserie ‚Bridgerton‘ überholt hat.”

Klingt toll, aber ziehen wir mal ein paar Zahlen heran. „Lupin” erzielte laut Netflix in 2021 70 Millionen Abrufe. Und zwar global, also in über 190 Ländern.

Die Arte-Serie „In thérapie” (die zweite Staffel startet demnächst bei Arte Deutschland) wurde 35 Millionen Mal geklickt. Das aber ist in Relation zu setzen, denn die Zahl gilt nur für Frankreich.

Übertrumpft wird sie von der britischen Krimiserie „Line of Duty”. Allein die sechste Staffel, die in Deutschland noch nicht zu sehen war, fand bei der linearen Ausstrahlung 15,24 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer. Alle Staffeln zusammen wurden beim BBCi-Player allein im Jahr 2021 137 Millionen Mal gestreamt.

Weitere Abrufzahlen aus 2021, jeweils nur britisches Inland (!):

Silent Witness” – 62,3 Millionen.

Doctor Who” – 41,8 Millionen

Death in Paradise” – 39,7 Millionen.

Da könnte man doch eigentlich auch mal einen Beitrag erwarten mit dem Tenor: „Die britische BBC fährt in den letzten Monaten einen Streaming-Rekord nach dem anderen ein.”

Aber die deutschen Medienjournalisten können scheinbar den Blick von Netflix einfach nicht abwenden.

Was sich 2022 ändert

2022 treten im Satzbaugewerbe und in den Wortdrechselstuben neue Verordnungen in Kraft. Die Verwendung des Verbs „ausgebremst“ bedarf künftig einer schriftlichen Genehmigung. Sportmetaphern wie „Auszeit“ und „in den Startlöchern“ sind nur noch ausgebildeten Fachredakteuren gestattet. Das Adjektiv „zeitnah“ wird dauerhaft durch „kurzfristig“ ersetzt. Die öffentliche Nutzung wird eingestellt.

In Redaktionen mit mehr als fünf Mitarbeitern sind künftig zertifizierte Anglizismusbeauftragte vorgeschrieben. Die Ausnahmegenehmigungen für Phrasen wie „nicht wirklich“, „willkommen zurück“, „wir sind Familie“, „wir müssen reden“, „das ist Geschichte“ werden aufgehoben. Stattdessen unterliegen sie ab dem 1.1.2022 einem strikten Nutzungsverbot.

Die wörtliche Übersetzung von „selftitled“ zu „selbstbetitelt“ wird künftig mit einem Entzug der Schreiberlaubnis für eine Dauer von mindestens sechs Monaten geahndet. „Publicist” ist künftig korrekt mit „Pressesprecher/in”, „pathologist” mit „Rechtsmediziner/in” und „decorator” mit „Innenarchitekt/in” oder „Innenausstatter/in” zu übersetzen.

Unsicherheiten, Niedrigverdienst, Qualitätsverlust

Im vergangenen Winter hat die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität eine Umfrage zum Thema Prekarisierung in den journalistischen Berufen erstellt. Erste Ergebnisse liegen vor. Professor Dr. Thomas Hanitzsch und Jana Rick, M.A., haben die Studie geleitet und schreiben (Orthografiefehler inklusive):

- Hauptberufliche Journalist*innen verdienen im Durchschnitt rund 2340 € netto pro Monat. Die Zahl der Niedrigverdiener*innen ist im Vergleich zu vergangenen Studien gestiegen.

- Mit ihrem Beruf allgemein sind 43% eher zufrieden und 26% sehr zufrieden.

- Insgesamt 43% der hauptberuflichen Journalist*innen schätzen ihre Arbeitssituation als prekär ein.

- Die Mehrheit der hauptberuflichen Journalist*innen (58%) stuft ihr aktuelles Arbeitsverhältnis als „eher unsicher“ ein.

- Drei von fünf Journalist*innen haben berichtet, dass sich ihre Arbeitsbedingungen seit der Corona-Pandemie verschlechtert haben.

- Die Mehrheit der Journalist*innen (58%) ist der Meinung, dass prekäre Verhältnisse die Qualität des Journalismus bedrohen.

Kommentar: Der Qualitätsverlust ist längst eingetreten. Schlimmer noch: Er wird von manchen Berufsangehörigen billigend in Kauf genommen.

Die ausführlichen Ergebnisse können unter https://survey.ifkw.lmu.de/Journalismus_und_Prekarisierung/Prekarisierung_im_Journalismus_erster_Ergebnisbericht.pdf eingesehen und heruntergeladen werden.

Fehlbesetzungen und Wortmeldungen

Am 29. Januar 2021 wiederholte das WDR Fernsehen die achte Folge aus der Diskussionsreihe „Die letzte Instanz“, die der Zuschauerschaft Gelegenheit zur Abstimmung bietet. Als Themen waren angekündigt:

1. Das Ende der Zigeunersauce: Ist das ein notwendiger Schritt?

2. 10 Jahre Instagram: Sind soziale Medien ein Fortschritt?

3. Good Cop, Bad Cop: Können wir der Polizei noch vertrauen?

4. Extrem gepiercte und tätowierte Erzieher und Lehrer: Können wir das unseren Kindern zumuten?

In die Diskussionsrunde gebeten worden waren der Autor und Moderator Micky Beisenherz, der Quatschkopf Thomas Gottschalk (Originalzitat aus einer anderen Sendung: „Nun wissen wir ja, Indiana Jones, ich habe es vorher schon erwähnt, hat die Nazis bekämpft. Das heißt, er lebte in den Fünfzigern.“), die Schauspielerin Janine Kunze sowie Schlagersänger und Gelegenheitsmoderator Jürgen Milski. Der zuständigen Redaktion hätte auffallen müssen, dass hier ein grundsätzlicher Fehler vorlag. Vier Menschen aus der Showbranche, darunter die drei Komplettfehlbesetzungen Gottschalk, Kunze, Milski, sprechen über Personen aus anderen Berufs- und Erfahrungswelten. Betroffene jeder Seite hätten vertreten sein müssen. Erzieher und Eltern, Polizisten und Opfer von Polizeigewalt.

Festgehalten werden muss, dass diese Sendung bei der Erstausstrahlung wenig Beachtung fand. Bei der Wiederholung dann wurde Empörung laut, insbesondere zu Thema eins, der „Zigeunersauce“. Durchaus ein Gesprächsthema, vielleicht einmal mit Unterstützung eines Sprachwissenschaftlers und selbstverständlich in Anwesenheit von Roma- und Sinti-Vertretern. Ein Aspekt: Hat sich das Schimpfwort „Zigeuner“ nicht mittlerweile aus dem früheren Bedeutungszusammenhang gelöst? Hätte man im WDR diskutieren können, hat man aber nicht.

Die Einwände gegenüber der Sendung sind berechtigt, wobei sich in der nachfolgenden, verspäteten Debatte ein kritisiertes Muster wiederholte: Weiße, privilegierte Menschen verfassten Kommentare und monierten die „Zigeunersaucen“-Diskussion ihrerseits über die Köpfe der Betroffenen hinweg, statt nach guter journalistischer Praxis Stellungnahmen einzuholen. Die Berliner „tageszeitung“ generalisierte gar, die Ressentiments gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schürend: „Aber bei den Öffentlich-Rechtlichen besteht wenig Hoffnung.“ Das geriet eine Spur zu vollmundig, denn auch innerhalb der „tageszeitung“ haperte es in der Vergangenheit schon verschiedentlich an sprachlicher Sensibilität. Der „Redakteur für besondere Aufgaben“ Jan Feddersen beispielsweise verwendete in einer – auch sonst sprachlich missglückten – Kritik der TV-Serie „Pinky Blinders“ das „Z-Wort“, unverblümt, nicht als Zitat, nicht kritisch gebrochen, offenbar ohne dass innerhalb der Redaktion jemand Anstoß nahm. Der Text ist weiterhin online verfügbar.

Leise tönt das Todesglöckchen

Habe gerade bei faz.net wieder eine dieser journalistischen Denksportaufgaben entdeckt. Am 3.3.2020 hieß es dort in einer Einleitung: „Beim Grimme-Preis zeigt sich, dass die Tage des linearen Fernsehens gezählt sind. Denn einige wichtige Preise gehen an Streamingdienste.“ Lesen wir weiter.

„Einige wichtige Preise“ sind in Zahlen ausgedrückt drei von sechzehn. In Ziffern: 3. Zwei gehen an Serienproduktionen, einer an ein Unterhaltungsformat. Alle Preise im Bereich Kultur & Information sowie Kinder & Jugend – in den Augen von FAZ-Autoren offenbar eher unwichtig – bleiben beim linearen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Da dessen Tage laut faz.net gezählt sind – müssen wir demnächst auf qualitative und auszeichnungswürdige Informations- und Kindersendungen verzichten? Oder helfen Netflix, Amazon und Konsorten aus? Und wenn ja, was soll’s kosten?