Nebelkerzen in der „Tagesschau“

In den letzten Jahren sind Angehörige der unentschlossenen Generationen in den Journalismus eingewandert. Rupert Wiederwald beispielsweise berichtete dieser Tage in der „Tagesschau“: „Auch hier fahren nicht wirklich viele Züge.“
Warum diese schwachmatische Relativierung? Fahren nun Züge oder fahren sie nicht? (Sie fuhren nicht.)
Noch blöder sind Sätze wie „Die Kanzlerin konnte sich nicht wirklich durchsetzen.“
In so gut wie allen Fällen ist die Phrase „nicht wirklich“ eine völlig überflüssige Beigabe, ein geziertes, modisches Aufblasen des jeweiligen Wortlauts. Sie wirkt wie die Vermeidung einer klaren Aussage, wie die Vernebelung des eigentlichen Sachverhalts.
Bevor die Floskel von denkfaulen Synchronautoren als Übersetzung des angelsächsischen „not really“ herangezogen wurde, hatte sie übrigens eine ganz andere Bedeutung. Sie stand für gespenstische, märchenhafte, traumhafte, wirklichkeitsfremde, also „unwirkliche“ Wahrnehmungen. Um Einschränkungen auszudrücken, benutzte man Wendungen mit eindeutigerem Wortstamm wie „nur bedingt“, „nur begrenzt“, „nicht unbegrenzt“.

Widersprüche aus Prinzip?

Seit einiger Zeit scheint es in der journalistischen Praxis Usus geworden zu sein, Überschriften zu formulieren, die genau das Gegenteil dessen aussagen, was berichtet wird. Ein aktuelles Beispiel stammt von msn.com: „Richter verlangt vom Repräsentantenhausausschuss die Herausgabe von Dokumenten, die zeigen, dass Trump seine Betrugstheorien aufgebauscht hat”.

Im zugehörigen Beitrag aber heißt es korrekterweise: „Bundesrichter David Carter hat den Anwalt John Eastman, eine Schlüsselfigur bei den Versuchen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, die Wahlergebnisse für 2020 anzufechten, angewiesen, dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses, der den Aufstand vom 6. Januar untersuchte, rund 30 Dokumente auszuhändigen, die beweisen würden, dass der Tycoon wusste, dass seine Behauptungen unbegründet waren.”

So etwas kann natürlich mal versehentlich passieren, wer wäre frei von Fehlern. Wenn man aber als Autor, wie dem Verfasser (nicht bei msn.com) mehrfach widerfahren, auf solche Irreführungen aufmerksam macht und der zuständige Redakteur auf dem Wortlaut der Überschrift beharrt, auf die sachliche Kritik sogar zornig reagiert, dann ist das doch eine etwas seltsame Auffassung journalistischer Tätigkeit.

Reizwortjournalismus – Wie die Suchmaschinenoptimierung die Berichterstattung korrumpiert

Es braucht keine gezielte Suche, um zu erkennen, dass der Streaming-Anbieter Netflix in der Medienberichterstattung eine Vorzugsbehandlung erfährt. Auf der Webseite tvspielfilm.de findet man gleich neben den „TV-Tipps des Tages“ den Anreißer zu dem Beitrag „Diese Netflix-Serien werden 2022 abgesetzt“. Scrollt man ein wenig, gibt es nochmals die Möglichkeit, zu diesem Text zu wechseln. Direkt daneben: „Netflix setzt nächste Serie ab“. Und darunter: „Die besten Netflix-Serien 2022“. Nochmals einige Klicks tiefer: „Die besten Netflix-Filme“. Unter der Rubrik „Streaming- und Serien-News“ in fast voller Seitenbreite: „Neu bei Netflix im März 2022“. Kein anderer Anbieter dieser Sparte wird bei tvspielfilm.de in ähnlichem Umfang berücksichtigt.

Kein Einzelfall.

Lesen Sie weiter in der aktuellen Ausgabe des „Medium Magazins”.

Kurzfilmfan nur bei Bedarf

Vor einem Jahr gab es eine Fülle kritischer Berichte, weil die 3sat-Senderleitung die Kooperation mit den Oberhausener Kurzfilmtagen einzustellen gedachte. Deutlich seltener war zu lesen, dass, so eine Verlautbarung vom 15. Dezember 2020, die Zusammenarbeit erneuert und dass 3sat einen mit 2.500 Euro dotierten Nachwuchspreis stiften sowie Preisträgerfilme erwerben wird. Jetzt darf man gespannt sein, wie viele der Kurzfilmbefürworter in den publizistischen Medien auf den Sendetag 8. Mai hinweisen, wenn 3sat anlässlich der 67. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ein Kurzfilmprogramm ausstrahlt.

Auch bei anderen öffentlich-rechtlichen Sendern übrigens gibt es Kurzfilme, linear und online, bei Arte sogar wöchentlich. Bei entsprechenden Themenangeboten aber winken die Medienredaktionen ab, sofern man den Sachverhalt nicht skandalisieren kann.

Hashtag: Bigotterie.

Links (Auswahl):

https://www.arte.tv/de/videos/kino/kurzfilme/

https://www.ardmediathek.de/sendung/kurzfilme/Y3JpZDovL21kci5kZS9zZW5kZXJlaWhlbi9hYjdiN2M3MC0wNjAxLTQ2MmMtOGIwOS02MGQ2ZGI1NmYyMWM/

https://www.rbb-online.de/derrbbmachts/kurzfilm/vier-waende-berlin–30-filme-mit-abstand.html

https://www.br.de/mediathek/sendung/kurzfilmnacht-av:584f4c7c3b467900117c24e2

Unsicherheiten, Niedrigverdienst, Qualitätsverlust

Im vergangenen Winter hat die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität eine Umfrage zum Thema Prekarisierung in den journalistischen Berufen erstellt. Erste Ergebnisse liegen vor. Professor Dr. Thomas Hanitzsch und Jana Rick, M.A., haben die Studie geleitet und schreiben (Orthografiefehler inklusive):

- Hauptberufliche Journalist*innen verdienen im Durchschnitt rund 2340 € netto pro Monat. Die Zahl der Niedrigverdiener*innen ist im Vergleich zu vergangenen Studien gestiegen.

- Mit ihrem Beruf allgemein sind 43% eher zufrieden und 26% sehr zufrieden.

- Insgesamt 43% der hauptberuflichen Journalist*innen schätzen ihre Arbeitssituation als prekär ein.

- Die Mehrheit der hauptberuflichen Journalist*innen (58%) stuft ihr aktuelles Arbeitsverhältnis als „eher unsicher“ ein.

- Drei von fünf Journalist*innen haben berichtet, dass sich ihre Arbeitsbedingungen seit der Corona-Pandemie verschlechtert haben.

- Die Mehrheit der Journalist*innen (58%) ist der Meinung, dass prekäre Verhältnisse die Qualität des Journalismus bedrohen.

Kommentar: Der Qualitätsverlust ist längst eingetreten. Schlimmer noch: Er wird von manchen Berufsangehörigen billigend in Kauf genommen.

Die ausführlichen Ergebnisse können unter https://survey.ifkw.lmu.de/Journalismus_und_Prekarisierung/Prekarisierung_im_Journalismus_erster_Ergebnisbericht.pdf eingesehen und heruntergeladen werden.

Ansatzpunkte

Das Thema „Geld für publizistische Internet-Angebote“ – für kurz Angebundene: „Bezahlinhalte“ – entwickelt sich zu dem, was wir langgedienten Musikjournalisten einen „Evergreen“ nennen. Es beschäftigt Kongress-, Tagungs- und Konferenzteilnehmer und die zugehörigen Berichterstatter und bei allem Räsonieren will doch die Ratlosigkeit einfach kein Ende nehmen. Hilfesuchend schweift der bange Blick in die Ferne, zur „New York Times“ oder zum hemdsärmeligen Onkel Rupert, dem Murdoch.

Der Nahbereich versinkt darob in Unschärfe. Denn in Deutschland gibt es ja bereits Bezahlinhalte. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ beispielsweise gewährt Zugriff auf ihr Archiv, die Suchfunktion zaubert die jeweilige Einleitung auf den Schirm und bei Interesse kann der zugehörige Artikel für problemlos zu entrichtende zwei Euro – Schnelligkeit ist ja ein wesentlicher Faktor – heruntergeladen und ausgedruckt werden.

So weit die Idee, doch bei der Realisierung hakt es. Denn auf eine Stichwortsuche hin werden längst nicht alle in Frage kommenden Beiträge aufgerufen. Selbst die Eingabe der Überschrift führt nicht zwangsläufig zum Ziel. Idealiter müssten die in Frage kommenden Inhalte zügig per Stichwort oder Autorennennung erschlossen und komplett aufgelistet werden. Und natürlich sollte diese Funktion mit allen gebräuchlichen Suchmaschinen gekoppelt sein, um über die eingeweihte Klientel hinaus weitere Kundschaft zu gewinnen.

Das müsste sich doch irgendwie einrichten lassen. Wenn man – über die gängigen Rationalisierungsmaßnahmen hinaus – nur mal ein paar Gedanken auf das eigene Produkt verwenden, sich vor allem aber öfter mal ins einfache nutzende Volk einfühlen würde.