Nebelkerzen in der „Tagesschau“

In den letzten Jahren sind Angehörige der unentschlossenen Generationen in den Journalismus eingewandert. Rupert Wiederwald beispielsweise berichtete dieser Tage in der „Tagesschau“: „Auch hier fahren nicht wirklich viele Züge.“
Warum diese schwachmatische Relativierung? Fahren nun Züge oder fahren sie nicht? (Sie fuhren nicht.)
Noch blöder sind Sätze wie „Die Kanzlerin konnte sich nicht wirklich durchsetzen.“
In so gut wie allen Fällen ist die Phrase „nicht wirklich“ eine völlig überflüssige Beigabe, ein geziertes, modisches Aufblasen des jeweiligen Wortlauts. Sie wirkt wie die Vermeidung einer klaren Aussage, wie die Vernebelung des eigentlichen Sachverhalts.
Bevor die Floskel von denkfaulen Synchronautoren als Übersetzung des angelsächsischen „not really“ herangezogen wurde, hatte sie übrigens eine ganz andere Bedeutung. Sie stand für gespenstische, märchenhafte, traumhafte, wirklichkeitsfremde, also „unwirkliche“ Wahrnehmungen. Um Einschränkungen auszudrücken, benutzte man Wendungen mit eindeutigerem Wortstamm wie „nur bedingt“, „nur begrenzt“, „nicht unbegrenzt“.

Begründungen, Befunde, Befindlichkeiten

Ein sehr zutreffender Kommentar zur diesjährigen Vergabe des Grimme-Preises, zu den dortigen Praktiken generell erschien dieser Tage in der „Frankfurter Rundschau”. Die Kritik des Autors Moritz Post an der Begründung der – völlig berechtigten – Preisvergabe an Jan Böhmermann hat Hand und Fuß. Doch gilt nicht nur für dieses Fallbeispiel, was Post konstatiert: Es offenbart sich bei der Grimme-Preis-Jury ein Sendungsbewusstsein und eine unangenehme moralische Überlegenheit, wenn sie die vermeintlich Seriösen in unserer Welt als Clowns „degradiert“.

Seit je fallen manche Jurybegründungen gewunden, verquast, herablassend aus. Daraus spricht die von Post aufgespürte Haltung. Oft aber fehlt es auch schlicht an einem geeigneten Vokabular, Resultat eines Mangels an objektiven Kriterien und Ausweis dessen, dass manche Preisvergabe mehr von Idio­syn­kra­sien als von einem fachlichen Urteil über die erbrachte kreative und handwerkliche Leistung bestimmt wird. Das reicht bis hin zur schlichten Ignoranz. Sinngemäßes Zitat eines früheren Jurymitglieds, das während der Sichtungen gern mal Zeitung las, statt sich seiner Aufgabe zu widmen: Mich interessiert nur, was ich auf dem Bildschirm zu sehen bekomme.

Von 1995 bis 1996 sendete die ARD in ihrem Vorabendprogramm mit der WDR-Produktion „Die Partner” eine moderne, zeitgemäße Serie. Die Hauptrollen spielten die Größen Jan Josef Liefers, Ann Kathrin Kramer, Ulrich Noethen und Heinrich Giskes. Regie führten unter anderem der mittlerweile renommierte und vielfach preisgekrönte Samir („Baghdad in My Shadow”) und der später zeitweilig in Hollywood tätige Josef Rusnak. Diese Serie fiel aus dem damaligen Rahmen, weil die Autoren Ambivalenzen wagten, mehrdeutig erzählten und weil sich die Kameraleute Clemens Messow und Wedigo von Schultzendorff der gestischen Kamera bedienten, wie sie in den USA bereits in der Polizeiserie „Hill Street Blues” (ab 1981) angelegt und in den nachfolgenden Serienproduktionen „NYPD Blue” (ab 1993) und „Homicide: Life on the Street” (ab 1993) weiterentwickelt worden war. An eben dieser Kameraführung störte man sich im Grimme-Gremium, das über diese Serie zu befinden hatte, fand sie zu unruhig, nervös, verwirrend, erkannte gar nicht, dass bestimmte Szenen einer Episode andeutungsweise nur in einem Traum stattfanden. Mit anderen Worten: Man blieb um einige Jahre hinter der künstlerischen Entwicklung des Erzählfernsehens zurück.

Als aber 2010 die Regisseurinnen Doris Dörrie, Gloria Behrens, Vanessa Jopp diese Kameratechnik für die Serie „Klimawechsel” anwendeten, war die Jury begeistert. Eine Preisrichterin hatte zuvor von einer beteiligten Schauspielerin erzählt bekommen, dass sie und ihre Kollegen diese Art der Inszenierung schätzen, weil sie vor der Kamera gewisse Freiheiten bietet. Das galt 1995 auch schon, aber es dauerte, bis es in Marl, dem Ort der Preisvergabe, zur Kenntnis genommen wurde.

Einige Jahre später stand im Grimme-Institut die Vox-Produktion „Club der roten Bänder” zur Debatte, eine Adaption der katalanischen Serie „Polseres vermelles” von Albert Espinosa. Dessen Name indes wird in der Preisbegründung nicht genannt, obwohl sich die deutschen Autoren Arne Nolting und Jan Martin Scharf eng an die Originaldrehbücher gehalten hatten. Die damaligen Statuten des Grimme-Preises sahen vor, dass die Adaption einer ausländischen Serie mit dem Original verglichen werden muss. In der Nominierungskommission hatte man das unterlassen. Ein Verfahrensfehler, der aber von der Wettbewerbsleitung nicht so gesehen wurde.

In der Jury dann wurde auf Eigeninitiative eines Mitglieds die Pilotfolge des Originals eingespielt. Ein anderer Preisrichter, großer Befürworter der Serie, zeigte sich dann „schockiert” angesichts der offensichtlichen Nähe von Original und deutscher Bearbeitung. Er überwand glücklich seine Erschütterung, indem er bekanntgab, er werde die Übernahme der Drehbucharbeiten von Albert Espinosa als „kreative Entscheidung” bewerten. Und die war seiner Meinung nach preiswürdig. Eine selbstherrliche Missachtung der Leistung von Albert Espinosa, der in der Serie eigene Erlebnisse verarbeitete und an allen Drehbüchern der ersten Staffel beteiligt war. Übrigens war er bei den Dreharbeiten zur deutschen Staffel im Kölner Studio zu Gast, also auch in dieser Hinsicht eng mit der deutschen Produktion verbunden.

Die Mehrheit der Marler Jury scherte all das wenig. Der Name Albert Espinosa fiel erst, als Arne Nolting und Jan Martin Scharf bei der Übergabe der Trophäe sinngemäß auf dessen fabelhafte Vorarbeit hinwiesen. Die beiden Preisträger also verhielten sich im Hinblick auf die Anerkennung der Autorenschaft und die damit verbundene künstlerische Errungenschaft fairer als die Nominierungskommission, die Jury und der Ausrichter des Grimme-Preises.

Wenn „Der Spiegel” ins Schwärmen gerät

Mit dieser Überschrift möchte „Der Spiegel” Abonnenten locken: „Wie der »Game of Thrones«-Schöpfer jetzt den »Schwarm« verfilmt”. Gefolgt von der Einleitung: „Frank Doelger ist einer der mächtigen Strippenzieher des US-Fernsehens. Nach »Game of Thrones« inszeniert er nun den Klimawandel-Bestseller »Der Schwarm« als Visual-Effects-Spektakel – die teuerste deutsche Serie aller Zeiten.” Blöd daran: Frank Doelger ist nicht der Schöpfer von „Game of Thrones”, sondern war dort einer der Produktionsleiter. Seine Vita bei „Variety” gibt an: „Executive Producer non-Writing”.
Er führte bei „Der Schwarm” auch nicht Regie, wie das Verb „inszeniert” suggeriert.
Ebenso wenig ist Doelger „einer der mächtigen Strippenzieher des US-Fernsehens”. Vielmehr war er Teilhaber der Londoner Produktionsfirma Rainmark Films. Mittlerweile ist er in Berlin tätig, als Produktionschef („creative director”) von Intaglio Films, einem Joint Venture zwischen Beta Film und ZDF Studios. Ist doch für sich sehr interessant und eine Story wert. Warum muss man da noch Hintergründe erfinden?

Der Korrektor: Die „neuen” Serien

Fernsehserien sind in Feuilleton und Wissenschaft zum Modethema geworden. Beim medienwissenschaftlichen Blick zurück auf Veröffentlichungen zum Thema aus den letzten zwanzig Jahren stößt man unweigerlich auf eine Fülle an Irrtümern, Missverständnissen, Fehlinterpretationen. Aus der eigenen publizistischen Praxis darf berichtet werden, dass manche Redaktionen sogar an falschen Aussagen festhalten, obwohl sie es besser wissen. Ein Beispiel ist die Behauptung, das Remake von „House of Cards“ sei die erste Eigenproduktion von Netflix gegeben. Tatsächlich hatte Netflix die Rechte an der Produktion angekauft, und das zunächst auch nur für den US-amerikanischen Markt. Leicht erkennbar daran, dass „House of Cards“ außerhalb der USA bei anderen Anbietern Premiere feierte. Die Logik dahinter: Netflix würde niemals die Erstauswertung einer derart teuren und prestigeträchtigen Produktion den Mitbewerbern überlassen.

Manche dieser Falschinformationen sind bereits fest verankert in der öffentlichen Meinung. Korrekturen sind angebracht, auch wenn sie vermutlich in der Weite des Webs versickern, ergo unbeachtet bleiben werden.

Exemplarisch für die Herangehensweise an das Sujet ist ein Text aus der „tageszeitung“ aus dem Jahr 2013, verfasst von Ines Kappert, die laut beigefügter Biografie in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft promovierte und die neben Feminismus, Männlichkeitsentwürfen, Syrien, Geflüchteten auch TV-Serien als Themenschwerpunkt angibt.

Der Text ist überschrieben mit »Immer schön unberechenbar bleiben«. Bereits die taz-typisch verwirrende Unterzeile »Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue Qualitätsserien.« lässt stutzen. Die »neuen Qualitätsserien« können doch früher gar nicht als »Trash« gegolten haben, denn wenn es sie damals schon gegeben hätte, wären sie nicht »neu«.

Es erhebt sich zudem die Frage, bei wem Fernsehserien als »Trash« galten, und wann das gewesen sein soll. Wird hier womöglich eine Zonengrenze gezogen zwischen elitären Milieus und kulturell minderbemitteltem Pöbel? Bei manchen Fundstücken kommt schon mal der Eindruck auf, dass bildungsbürgerlicher Hochmut die Feder führte.

Gelernte Medienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wie auch erfahrene Medienjournalisten und viele fernseherfahrene Zuschauer wissen, dass es ehedem schon vom Publikum angenommene hochwertige TV-Serien gab, desgleichen einen seit circa 1970 zügig voranschreitenden wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema.

DANN HAT ES BOOM GEMACHT

Zitat:»Es war ein langer Weg von den ›Waltons‹, den ›Hesselbachs‹, der ›Schwarzwaldklinik‹, von ›Dallas‹ und ›Dynasty‹ zu ›Homeland‹, ›Kommissarin Lund‹, ›Breaking Bad‹ oder ›Borgen‹. Aber seit rund zehn Jahren ist sie da, die neue Fernsehunterhaltung, und sie boomt weltweit. Auf einmal ist das Fernsehen wieder zu einem interessanten Medium geworden, zumindest für die NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern.«

Zaghaft sei’s gefragt: Kam denn diese »neue Fernsehunterhaltung« wie eine Epiphanie über uns? Fiel sie vom Himmel, wurde sie uns von den Göttern gesandt? Jedoch offenbar nur den »NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern«.

Folglich ist das Fernsehen für Lineargucker weiterhin uninteressant geblieben. In diesem Publikumssegment also »boomt« es demnach nicht. Im Schnitt zehn Millionen Zuschauer beim „Tatort“ schlagen nicht zu Buche. Die vier bis fünf Millionen, die regelmäßig dienstags die Serien im Ersten einschalten, kann man ignorieren.

Warum eigentlich beschränkten die Götter ihre Wohltaten auf dänische und US-amerikanische Serien? Gab es denn gar nichts in Großbritannien, Frankreich, Benelux, Österreich, Polen, Tschechei? Australien, Asien, Afrika? Waren „The Prisoner“, „Widows“, „The Singing Detective“, das Original von „House of Cards“, „Capital City“, „State of Play“ ohne Bedeutung?

Die Produzenten von „24“ sahen das anders und holten sich Rat von Lynda La Plante, der britischen Autorin von Qualitätsserien wie „Widows“, „Prime Suspect“ und „Trial & Retribution“, deren Stil in „24“ anklingt.

ZAHLENSPIELE

»Boom« ist ein relativer Begriff, was folgende Zahlen belegen. „Breaking Bad“ begann in den USA mit durchschnittlich 1,23 Millionen Zuschauer, steigerte sich mühsam, blieb aber noch in den Staffeln 4 und 5a unter drei Millionen Zuschauern. Erst einige Folgen, nicht alle, der sechsten Staffel erreichten die Sechs-Millionen-Marke.

„Mad Men“ fand im besten Fall 3,29 Millionen Zuschauer, der Durchschnitt lag deutlich darunter.

Demgegenüber haben wir klassisch strukturierte episodische Serien wie „The Mentalist“ – sie startete mit 14,9 Millionen Zuschauern, erreichte mit der sechsten Staffel rund neun Millionen Zuschauer. Der Pilot von „Person of Interest“ wurde von 13,33 Millionen Menschen eingeschaltet. Ende der ersten Staffel gesellten sich noch ein paar dazu, in der Summe waren es 13,47 Millionen. In der fünften Staffel wendete sich das Publikum ab, aber mit 6,51 Millionen Zuschauer beim Finale liegt die Serie immer noch besser im Rennen als „Breaking Bad“ und „Mad Men“.

„Navy CIS“ begann mit 11,84 Millionen Zuschauern, erreichte in der Spitze 21,34 Millionen und erzielt auch in der 19. Staffel (!) im Schnitt über zehn Millionen Zuschauer pro Folge.

AKADEMISCHE ERKENNTNIS: FAMILIE FISHER UNTERSCHEIDET SICH VON FAMILIE HESSELBACH

Zitat:»Die Blaupause für den massiven Qualitätsschub im Fernsehen lieferten die HBO-Produktionen ›Sopranos‹ (1999-2007), ›Six Feet Under – Gestorben wird immer‹ (2001-2005) und ›The Wire‹ (2002-2008). Diese drei US-Serien nutzten das Format der Fortsetzungsgeschichte auf eine bis dahin ungekannte Weise.

Um die Differenz plastisch zu machen, hilft ein Vergleich mit ›Dallas‹ (CBS 1978-1991). (…) Zwar altern die Hauptfiguren, aber sie lernen genauso wie alle anderen überhaupt nichts dazu. Und auch das Setting um sie herum verändert sich nur unwesentlich. Das gleiche gilt für Vorgänger wie die ›Hesselbachs‹ (1960-1967) oder ›The Waltons‹ (CBS 1971-1981).«

Wenn eine kleine Berichtigung erlaubt ist: Eine Serie mit dem Titel „Hesselbachs“ gibt es nicht. Im deutschen Fernsehen liefen „Die Firma Hesselbach“ und „Die Familie Hesselbach“, die Fortsetzung trug den Titel „Herr Hesselbach und …“. Und der gewählte Vergleich hilft eher wenig. Erinnert sei daran, dass sich beispielsweise bei „Six Feet Under“ das Setting ebenfalls »nur unwesentlich« änderte. Und der Lerneffekt ist trotz des Altersunterschieds der Produktionen bei den Figuren von „Six Feet Under“ und den Serien um die Familie Hesselbach so unterschiedlich nicht. Beispiel: In der dritten Staffel wird Karl Hesselbach in den Stadtrat gewählt, dort lernt er und mit ihm die Zuschauerschaft eine ganze Menge über Lokalpolitik.

Es ist auch nicht ganz ohne Bedeutung, dass die Episoden der deutschen Serie monatlich ausgestrahlt wurden, also einer ganz anderen Dramaturgie unterlagen als Titel mit wöchentlichem Turnus.

EINE FRAGE DER WAHRNEHMUNG

Zitat: In den»neuen Serien«geht es»(…) vor allem um ein Nachvollziehen der Veränderung und des differenzierten Wahrnehmens und Erlebens einer Situation durch sämtliche Beteiligte.«

War nach diesen Maßstäben nicht schon „Peyton Place“ im Jahr 1964 eine »neue Serie«? Wie verhält es sich mit der britischen „Coronation Street“? Mit „M*A*S*H“, „St. Elsewhere“, „Ausgerechnet Alaska“, „Party of Five“, Anwaltsserien wie „L.A. Law“ und „I’ll Fly Away“?

EIN FALL FÜR DIE NOTAUFNAHME

»(…) der Streit um die richtige Sichtweise findet auch im Inneren der Hauptfiguren statt.«

Da kommt Sorge auf. Hoffentlich tragen die Hauptfiguren keine schwerwiegenden inneren Verletzungen davon, wenn die streitenden Parteien derart wüten.

INNOVATION: SERIENFOLGEN DAUERN JETZT 50 MINUTEN

Zitat:»In der Regel dauert bei den neuen Serien eine Episode fünfzig Minuten und es gibt zehn bis zwölf Episoden pro Staffel. ›The Wire‹ brachte es auf ganze fünf Staffeln, die Agenten-Thriller-Serie ›Homeland‹ ist bislang bei der dritten angelangt und noch ist kein Ende in Sicht.«

Ob es die Autorin wohl überrascht, dass eine fünfzigminütige Laufzeit als Norm gilt bei Produktionen, die für die Ausstrahlung in werbefinanzierten Sendern vorgesehen sind? Inklusive Werbung passen sie dann in das übliche Stunden-Schema. Wenn die Zahl der Staffeln als Rekorde vermeldet werden sollen, so fällt das Erreichte im Vergleich eher dürftig aus. „Law and Order“ bringt es auf 21 Staffeln, „Grey’s Anatomy“ geht ebenfalls in die 21. Runde, „Emergency Room“ endete nach der 15. Staffel. „Coronation Street“ läuft seit 1960 im britischen Fernsehen.

KAM DIE ERLEUCHTUNG WIRKLICH ERST SO SPÄT?

Zitat: »›Borgen‹ leuchtet ähnlich wie ›The Wire‹ und auch ›Homeland‹ das Zusammenspiel von Politik, Presse und Familie aus (…).«

In dem Punkt darf man behutsam ergänzen: „Borgen“ war kein Novum. Die dänische Serie hatte einen unmittelbaren Vorläufer in der niederländischen Produktion „Mevrouw Minister“, die auf Festivals und Fernsehmärkten gezeigt wurde und den dänischen Redakteuren kaum entgangen sein dürfte. Politische Themen in engerem Sinne verhandelten viele andere Serien, darunter „Tanner ʼ88“ (1988; Gewinner der goldenen Medaille in der Kategorie Best Television Series beim Cannes Television Festival) von Garry Trudeau und Robert Altman, „The West Wing“ (1999-2006), „State of Play“ (2003), „Commander in Chief“ (2005-2006) mit Geena Davis in der Rolle der ersten weiblichen Präsidentin der USA und nicht zuletzt „That’s My Bush!“ (2001) vom „South Park“-Team Trey Parker und Matt Stone. Im weiteren Sinne gehören auch die britischen Polit-Sitcoms „Yes, Minister“/„Yes, Primeminister“ (produziert 1979, gesendet 1980-1988, neu aufgelegt 2013) und „The Thick of It“ (2005, 2007 und 2012) in diesen Zusammenhang. Keinesfalls ausblenden darf man das britische Original von „House of Cards“ (1990) und dessen Folgeserien „To Play the King“ (1993) und „The Final Cut“ (1995), die zusammen eine zwölfteilige Trilogie ergeben.

TELEGENE ÜBERBEVÖLKERUNG

Zitat: »Im Laufe einer Serie bekommen es die ZuschauerInnen mit einer ganzen Heerschar von Charakteren zu tun.«

Die obige Beobachtung scheint nicht vollends durchdacht, denn sie gilt für nahezu jede Daytime- und Evening-Soap. Zum Beispiel für „Dallas“ und „Dynasty“, die ja oben auf einen Streich diskrediert wurden. Die bereits erwähnte britische Serie „Coronation Street“ erzählt seit 1960 von den Schicksalen der Bewohner einer ganzen Straße. Da kommt einiges an Personal zusammen.

BEFREIUNG AUS DEN KLAUEN DES PROGRAMMSCHEMAS

Zitat:»Möglich ist diese Komplexität nur aufgrund der DVD beziehungsweise der Streams auf bestimmten Webseiten. Die neuen Speichermedien und der Serienboom gehören zusammen. (…) Der Einzelne muss sich nicht mehr nach Sendeterminen richten, sondern kann die Serie sehen, wann immer es ihm passt.«

Jetzt verwundert aber, dass alle als Positivbeispiele aufgezählten Serie ihre Premieren im linearen Fernsehen hatten. „Die Sopranos“ starteten 1999, da war der Serienkonsum via World Wide Web noch nicht sehr weit gediehen. Zum Vergleich: Youtube wurde erst 2005 gegründet.

Hingegen erlaubte schon die Videokassette, eine Serie zu sehen, wann immer es dem Zuschauer passte. Was, wie die Älteren unter uns wissen, auch genau so praktiziert wurde.

Zitat: »Aber was ist mit der Ästhetik, was passiert auf der visuellen Ebene? Auch hier haben die neuen Serien dazugelernt, und zwar vor allem vom Kino. Die herkömmliche TV-Serie wird im Studio gedreht. Billiger ist Fernsehen nicht zu haben: Kein Wechsel der Drehorte und womöglich unpassendes Wetter bringen den Spielplan durcheinander (…). (…) Stattdessen sorgen eine überschaubare Anzahl von SchauspielerInnen mit schnellen pointenreichen Dialogen auf dem immergleichen Sofa oder am immergleichen Küchentisch für Unterhaltung.«

Schon grammatisch eine seltsame Aussage. Serien sind abstrakte Dinge, die können nichts dazulernen.

Wurden denn die »schnellen pointenreichen Dialoge« im Zeitalter der »neuen Serien« abgeschafft? Es gab Zeiten, da wurde genau diese Qualität seitens der Kritik gefordert. Man kann es den Leuten aber auch nicht recht machen …

Es wird das Selbstbewusstsein der Autorin hoffentlich nicht über die Maßen erschüttern, wenn sie erfährt, dass schon Episoden der deutschen Serie „Ihre Nachbarn heute Abend – die Familie Schölermann“ an Originalschauplätzen, zum Beispiel auf einem Passagierschiff, gedreht wurden. Auch die Hesselbachs gingen gelegentlich vor die Tür. Die Vorabendserie „Goldene Zeiten – Bittere Zeiten“ entstand in Baden-Baden, Paris, Wien, Marseille, Prag, „Sergeant Berry“ auf Mallorca. Für „Diamanten sind gefährlich“ und „Diamantendetektiv Dick Donald“ reisten die Hauptdarsteller nach Südafrika, für „Die Journalistin“ unter anderem an den Nürburgring, nach Amsterdam und nach Italien. Eine Episode spielt auf hoher See. Das ZDF ließ sich nicht lumpen und die Vorabendserie „I.O.B. – Spezialauftrag“ in Finnland, Belgien, Spanien drehen. Die ARD schickte die Heldinnen von „Okay S.I.R.“ buchstäblich in die Wüste, nach Rabat und Marrakesch, nach Marseille, Rom, Wien, Budapest, St. Mortiz. Zwar herausgepickt, aber keine Sonderfälle. Die Liste ließe sich fortsetzen.

EIN PAAR SHOTS ZUR ORIENTIERUNG

Zitat: »Die vernachlässigte Außenwelt wird nur über ›Orientierungsshots‹ eingeblendet – das Panorama von New York, die Ranch, die Lindenstraße. Alle diese Elemente finden sich auch in den neuen Qualitätsserien. Sie werden nun aber flankiert von cineastischen Elementen: So gibt es Außendrehs und auch aufwendigere Kamerafahrten.«

Nur ungern raubt man den jungen Leuten ihre Illusionen, aber Innendrehs sind eher die Regel als die Ausnahme. Seit je werden Kinofilme nach Möglichkeit im Studio gedreht. Das sind oder waren diese großen Gebäude auf den Geländen von Paramount, MGM, Warner Brothers, Babelsberg, Bavaria, Elstree, Pinewood mit der berühmten 007-Stage … Der Stab des Klassikers „Casablanca“ war nie in Casablanca, jedenfalls nicht im Rahmen der Dreharbeiten. Selbst der Flughafen wurde im Atelier nachgebaut. Alfred Hitchcock zog stets Dreharbeiten im Studio denen unter freiem Himmel vor. Er hat trotzdem ein paar anständige Filme zustande gebracht.

Auch er nutzte »Orientierungsshots“, in der Fachsprache Establishing Shots und schrieb dazu: »Washington ist ein Blick auf das Kapitol, New York ein Wolkenkratzer. Die Verwendung einer unbekannten Ansicht würde das Publikum verwirren …«

Establishing Shots gehören schlicht zur allgemeinen Filmsprache. Sie entstammen den eigenen Archiven oder werden von Agenturen bezogen.

WO WAREN DIE GUTEN SCHAUSPIELER ALL DIE JAHRE?

Zitat: »Im Post-TV hat das Fernsehen die Schauspielkunst wieder entdeckt. In fast allen neuen Serien finden sich außergewöhnliche DarstellerInnen, und zwar in Haupt- und Nebenrollen.«

Dann müssen wir davon ausgehen, dass Schauspieler und Schauspielerinnen wie Steve McQueen, Clint Eastwood, John Cassavetes, Richard Roundtree, Mia Farrow, Ryan O’Neal, Fred Astaire, Nick Nolte, David Niven, Charles Boyer, James Earl Jones, Alfre Woodard, Sally Field, George Clooney, Burt Lancaster, Robert Mitchum, Meryl Streep, Geena Davis, André Braugher, Edie Falco, Isabella Hofmann, Denzel Washington, Ned Beatty, Glenn Close, Sir Ian McKellen, Anthony Hopkins, Al Pacino wohl zu den minderbegabten Knallchargen zählen. Sie alle und viele weitere renommierte und preisgekrönte Kolleginnen und Kollegen sah man in dem, was die Autorin wohl als „Prä-TV“ bezeichnen würde.

Aber Filmauftritte sind eine völlig unnötige Reverenz. „St. Elsewhere“, „Hill Street Blues“, „Emergency Room“, „Homicide – Life on the Street“, „American Gothic“, „Profit“, „The Shield“ – lang ist die Liste der Serientitel, in denen man extraordinäre Leistungen von Schauspielerinnen und Schauspielern bewundern kann, die primär im Fernsehen gearbeitet haben und in ihrem Metier höchste Anerkennung genießen.

Kosmische Kapriolen

Es heißt Abschied nehmen von Jodie Whittaker als Kommandantin der TARDIS. Im Jubiläumsjahr 2023, die Serie startete am 23. November 1963, gibt es gleich zwei Wandlungen des Doctors. Einen Rückfall, eine neue Inkarnation in Gestalt des in Ruanda geborenen Schauspielers Ncuti Gatwa. Aber bis dahin ist noch ein wenig Zeit, die sich mit einigen Specials voller kosmischer Kapriolen und der 13. Staffel vortrefflich überbrücken lässt. Der Zyklus startet heute auf One. Mehr dazu hier: https://www.epd-film.de/tipps/2022/ard-mediathek-doctor-who-staffel-13

Der Geiselgangster von Görlitz

Sächsisch noir: Mit zwei neuen Filmen geht die düstere Reihe „Wolfsland“ um Kommissar Burkard Schulz und seine Partnerin Viola Delbrück in die Fortsetzung.

Frankfurt – Wie groß mag der Radius sein, den man einhalten muss, um nicht von Kommissar Burkard „Butsch“ Schulz (Götz Schubert) in irgendwelche Kalamitäten verwickelt zu werden? Am besten bleibt man wohl ganz außer Sichtweite. Seine Partnerin Viola Delbrück (Yvonne Catterfeld) wirkt gleichfalls wie ein Magnet auf Malaisen. Zu Beginn der Reihe „Wolfsland“ wurde sie von ihrem psychisch erkrankten Ex-Gatten kujoniert. Schulz zog sich später den Hass eines Jugendfreundes zu. Er wurde einer Vergewaltigung beschuldigt, des Mordes verdächtigt und erlitt schließlich eine Schussverletzung, die ihn in den Rollstuhl zwang.

Weiter geht es hier: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/kritik-wolfsland-20-stunden-im-ersten-der-geiselgangster-von-goerlitz-91991971.html

Camping-Panzer dringt nach Mecklenburg-Vorpommern vor

Osnabrück – Die Heimsuchung rollt mit einem Fahrzeug auf den Hof, das Susanne Krombholz (Stefanie Stappenbeck) sehr zutreffend als „Camping-Panzer“ bezeichnet. Ein Wohnmobil auf LKW-Chassis, ausgestattet mit allen Schikanen, ein Luxusschneckenhaus. So gewichtig, dass es auf unbefestigten Campingplätzen bei Regen vermutlich im Boden versackt.

Aber der Steuermann Oliver Drittenpreiß (Wanja Mues) denkt gar nicht an einen temporären Aufenthalt. Er ist in ein stilles Gebiet Mecklenburg-Vorpommerns vorgedrungen, um eine einsam auf weiter Flur stehende Retourenzentrale zu einem europaweit einzigartigen „Hyper Center“ auszubauen. Seine Vorstellungen präsentiert er futuristisch in Form einer Holoprojektion und salbadert im Wichtigtuerjargon unter anderem von der „Wende 2.0“. Die Vorzüge des nahe dem real existierenden, Kalauer provozierenden Pampow gelegenen Standorts: verkehrsgünstig, niedrige Löhne, üppige Wirtschaftsförderung.

Hier geht es weiter: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/retoure-ndr-reformator-im-camping-panzer-tv-kritik-91957265.html

Verfolgte Unschuld, mitreißende Komödiantin, Kultfigur

Der Horrorklassiker „Halloween“ machte sie zum Weltstar: Arte zeigt ein Filmporträt der Hollywood-Schauspielerin Jamie Lee Curtis.

Frankfurt – Mit 19 Jahren absolvierte Jamie Lee Curtis ihren ersten Auftritt vor einer Filmkamera. „Visitors in Paradise“ hieß die Episode der Kriminalserie „Quincy“. Beinahe prophetisch, denn das Engagement markierte ihren Eintritt in das Filmgeschäft, in dem sie sich lange Zeit eher wie eine Besucherin und fremd fühlen sollte.

Weiter geht es hier: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/tv-kritik-filmportraet-ueber-jamie-lee-curtis-schauspielerin-kultfigur-hollywood-halloween-arte-91941139.html

Elektromagnetische und andere Impulse

Falls jemand eben den Krimi „Harter Brocken” im Ersten gesehen haben sollte, möchte ich in aller Bescheidenheit und ganz wertfrei anmerken, dass ich die Idee mit dem EMP schon in meinem 2018 erschienenen Kurzkrimi „Die Nacht mit dem Holenkerl” (2019 „Buch des Monats” der Stadtbibliothek Osnabrück) verwendet habe. Mehr dazu live nächsten Freitag ab 20 Uhr im Osnabrücker „Unikeller” unterm Schloss.

Nicht die auf dem Platz sind die Gewinner

Die Serie »Das Netz: Spiel am Abgrund« beginnt mit der Zeitangabe: »Zwei Wochen bis zur WM.« So aktuell und mutig gerät eine Fernsehserie nur selten. Vom Tag der linearen Ausstrahlung an (3. November) sind es gut zwei Wochen bis zum Anpfiff der echten Fußballweltmeisterschaft in Katar.

In der fiktionalen Serie heißt der Weltfußballverband nicht FIFA, sondern WFA. Ihr Präsident Jean Leco (Raymond Thiry) verfolgt den ehrgeizigen Plan einer World League, in der die besten Mannschaften aller Länder gegeneinander antreten.

(…)

Mehr über die ARD-Serie „Das Netz” gibt es hier: https://www.epd-film.de/tipps/2022/ard-mediathek-das-netz